Suomalainen Kirjakauppa, Buchhandlung, Finnland: Wie kamen Lila und Lenù zu Ihnen? Warum wollten Sie gerade ihre Geschichte erzählen? Möchten Sie, dass Ihre Leser etwas Bestimmtes über Sie erfahren? Und inwieweit ist es etwas anderes, in Neapel zu leben als, zum Beispiel, in Rom? Was macht Neapel so einzigartig?
Elena Ferrante: Lenù und Lila sind Phantome wie alle Figuren, die die Literatur bevölkern. Anfangs erscheinen sie in kurzen, flüchtigen Besuchen, ähneln ein wenig den Menschen, die wir lange nicht gesehen haben oder die gestorben sind. Wir halten sie mit ein paar Sätzen fest, sperren sie in ein Notizheft, und nach einer Weile lesen wir uns das erneut durch. Wenn die Sätze Kraft haben, kehren die Phantome wieder, wir fangen sie mit weiteren Wörtern ein. Und immer so weiter: Je stärker die Kette der Wörter wird, umso mehr werden die bleichen Erscheinungen zu Gestalten aus Fleisch und Blut, sie gewinnen klare Konturen, ziehen Häuser nach sich, Straßen, Landschaften, Neapel, eine Handlung, in der sich alles bewegt und Wärme hat, und es sieht so aus, als könntest nur du diesen undeutlichen Gestalten eine Deutlichkeit geben und sogar den Anschein wahren Lebens. Aber es geht nicht immer gut, im Gegenteil, sehr oft geht es schief. Die Phantome verirren sich, sind zu unbeständig, deine Wörter klingen falsch oder matt, die Stadt ist nicht mehr als ein Name, und wenn dich jemand fragt, inwieweit sie sich, zum Beispiel, von Rom unterscheidet, hast du keine Antwort und findest sie vor allem nicht in den mehr oder weniger blutarmen Sätzen, die du geschrieben hast.
Ieva Mazeikaite, Übersetzerin für Alma Littera, Litauen: Viele Hauptfiguren Ihrer Romane verlassen ihre Heimatstadt, sobald sie erwachsen sind. Welchen Einfluss hat diese Abwendung von Neapel auf die Entwicklung der Figuren?
Elena Ferrante: Fortgehen ist wichtig, aber nicht allesentscheidend. Lenù geht fort, Lila hat Neapel nie verlassen, aber beide entwickeln sich weiter, haben ein ereignisreiches Leben. Elenas Entscheidungen sind mir, wie ich schon sagte, näher. Veränderungen muss man nicht fürchten. Was anders ist, darf uns nicht erschrecken. Aber zu bleiben, halte ich nicht für falsch. Wichtig ist, dass uns die immerwährende Beschränkung auf nur einen Ort nicht ärmer macht. Mir gefallen Menschen, die auch dann gefährliche Abenteuer erleben können, wenn sie nur von einem Ende der Straße, in der sie geboren sind, zum anderen gehen. So habe ich mir Lila vorgestellt.
Fleur Sinclair, Buchhändlerin, Seven Oaks Bookshop, Sevenoaks, UK: Angesichts der vielen Ereignisse in einem Roman, an dessen Anfang ein Satz steht, der in einer besonders sensiblen Phase in Giovannas früher Jugend gesagt wird und nie mehr zurückgenommen werden kann, möchte ich gern wissen, ob es etwas gibt, das den Wunsch in Ihnen weckt, noch einmal zurückzugehen und mit Ihrem jugendlichen Ich zu sprechen (oder vielleicht etwas, von dem Sie sich wünschen, dass Ihr jugendliches Ich es belauscht hat). Etwas, das ihr Leben hätte anders verlaufen lassen, als es bisher verlaufen ist, etwas, das Ihnen das Selbstvertrauen und den Anstoß gegeben hätte, Dinge, die Sie getan haben, schon früher zu tun, oder Schritte zu vermeiden, die Sie heute bedauern.
Elena Ferrante: In unserem alltäglichen Leben ist vorbei, was vorbei ist. Erst recht die Zeit der Pubertät. Für mich war sie eine starre, trostlose Zeit. Seit ich erwachsen bin, hüte ich mich davor, zu einem vielleicht sogar glücklich wirkenden, heranwachsenden Mädchen zu sagen: Hast du es gut. Ich denke, je eher diese Phase vorüber ist, umso besser. Doch darüber zu schreiben, ist spannend. Ich vermute, ein Stückchen frühe Jugend scheint in allen Büchern auf, egal, wovon sie handeln, gerade weil sie eine Zeit voller Donnerschläge, Blitze, Stürme und Schiffbrüche ist. Du bist noch fast ein kleines Mädchen, bist schon fast eine erwachsene Frau, und dein Körper entschließt sich eine Ewigkeit nicht dazu, die eine Form abzulegen, um eine andere anzunehmen. Auch deine Sprache scheint nicht die richtigen Module für dich zu haben, entweder du benimmst dich kindisch, oder du redest wie eine sehr erwachsene Frau, und in beiden Fällen schämst du dich. In der Realität verändert sich die Vergangenheit nicht. Doch wenn man schreibt, ist die frühe Jugendzeit unendlich schillernd. Jedes Bruchstück kann seinen Platz finden und in der Erzählung plötzlich die Würde einer Bedeutung verdienen. Wenn du schreibst, beginnt diese starre, schlaffe Zeit, vom Rand des Erwachsenenlebens aus betrachtet, zu fließen, sie entsteht und verändert sich, findet ihren Sinn.
Fe Fernández Villaret, Buchhändlerin, L’Espolsada Llibres, Corró d’Avall, Barcelona, Katalonien: Zunächst möchte ich Ihnen sagen, dass ich die vier Bände von Meine geniale Freundin mit größtem Vergnügen gelesen habe. Als Buchhändlerin habe ich sie allen Menschen empfohlen, trotzdem wurden sie vor allem von Frauen gelesen, weil sie von Anfang an als »Frauenliteratur« eingestuft worden sind. Der Blick in Ihren Büchern ist ein weiblicher, doch das heißt nicht, dass sie ausschließlich für Frauen bestimmt sind, im Gegenteil. Was denken Sie, warum interessieren sich Männer nicht für Bücher, die aus weiblicher Sicht auf die Welt schauen? Jahrelang wurden uns das Leben, die Geschichte und alles, was geschah, von Männern erzählt. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie dazu beigetragen haben, das weibliche Universum reicher und vielfältiger zu machen.
Elena Ferrante: Was soll ich sagen? Männer, selbst die gebildetsten, versuchen häufig nicht einmal, unsere Bücher zu lesen. Sie betrachten sie, wie Sie schon festgestellt haben, als »Frauenliteratur«, und mit dieser Formulierung bewahren sie wohl nicht nur ihre Männlichkeit vor jeder eventuellen Degradierung, sondern sprechen uns vor allem die Gabe der Universalität ab, die sie nur sich selbst zugestehen. Sie schreiben Bücher für Männer und Frauen, wir dagegen können nur für Frauen schreiben. Dies ist eines von vielen Zeichen dafür, dass sie uns noch immer als Menschen zweiter Klasse betrachten. Und wir selbst scheinen sie manchmal darin zu bestärken, es fehlt nicht viel, und wir Frauen rufen wieder wie Euripides‘ Iphigenie: »Mehr denn tausend Frauenleben wiegt das Leben eines Manns.« Wir wurden in der Vorstellung erzogen, eine Person männlichen Geschlechts habe unter ihren vielen wunderbaren Vorzügen auch den, die ganze Welt auf sich zu vereinigen. Wenn ein Mann ein großes, kleines oder winziges Werk schafft, wendet er sich selbstverständlich an die Menschheit, an die Vertreter von Mars und Venus, er fühlt sich dem Möglichen und dem Unmöglichen gewachsen. Wir, so sagten sie uns, seien für so etwas nicht geschaffen. Ihre Intelligenz, ihr Talent sind Vorzüge. Unsere Intelligenz, unser Talent sind Nachteile. Nur ein Beispiel: Der außergewöhnliche Baudelaire, dem wir alle, Männer wie Frauen, viel zu verdanken haben, schrieb, die weibliche Schönheit sei von größerer Dauer, wenn sie nicht mit Klugheit gepaart sei, und er erklärte in seiner provokanten Art, die Liebe zu klugen Frauen sei das Vergnügen von Päderasten. Die Dinge ändern sich, natürlich, ändern sich fortwährend, aber, besonders in der Tiefe, viel zu langsam. Noch heute sorge ich für Unbehagen und wirke ein wenig ungehobelt, wenn ich sage, dass die große, sehr große Literatur nicht universell ist, sondern nur eine große, sehr große männliche Literatur. Aber so ist es.