Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Taschenbuch
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hat sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre vierbändige Neapolitanische Saga – bestehend aus Meine geniale Freundin, Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes – ist ein weltweiter Bestseller, der von der preisgekrönten Karin Krieger ins Deutsche übertragen wird. Zuletzt erschienen im Suhrkamp Verlag auch Ferrantes frühere Romane Lästige Liebe, Tage des Verlassenwerdens und Frau im Dunkeln. 2020 erscheint mit Das lügenhafte Leben der Erwachsenen der erste Roman Elena Ferrantes nach der Neapolitanischen Saga. Zur »Enthüllung« der Autorin haben wir hier einen Beitrag erstellt.
Neapel in den Neunzigern, Giovanna ist dreizehn Jahre alt, die Vorzeigetochter kultivierter Mittelschichtseltern, eine strebsame Schülerin. Doch plötzlich verändert sich alles, ihr Körper, ihre Stimmung, die Noten brechen ein, und immer öfter gerät sie mit ihren Eltern aneinander. Zufällig kommt Giovanna der Vorgeschichte ihres Vaters auf die Spur, der aus einem ganz anderen Neapel stammt, einem leidenschaftlichen, vulgären Neapel. Dort treibt sie sich herum, aber die Geheimnisse, auf die sie da stößt, verstören sie. Und als sie bei einem Abendessen bemerkt, wie ein Freund der Familie unterm Esstisch zärtlich die Füße ihrer Mutter streift, verliert sie vollends die Fassung. Denn wem kann sie überhaupt noch trauen? Und was soll ihr Halt geben? Oder ist sie selber bereits unrettbar verwoben in dieses lügenhafte Leben der Erwachsenen?
Elena Ferrante hat ein Bravourstück geschaffen und einen traurigen und schönen Roman geschrieben: über die Heucheleien der Eltern, die Atemlosigkeiten und Verwirrungen der Jugendzeit und über das Drama des Erwachsenwerdens. Darüber, wie es ist, ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden.
Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. Alles – Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblieben. Ich dagegen bin weggeglitten und gleite auch jetzt noch weg, in diese Zeilen hinein, die mir eine Geschichte geben wollen, während sie eigentlich nichts sind, nichts von mir, nichts, was wirklich begonnen oder wirklich einen Abschluss gefunden hätte: nichts als ein Knäuel, von dem niemand weiß, nicht einmal, wer dies hier gerade schreibt, ob es den passenden Faden einer Erzählung enthält oder nur ein verworrener Schmerz ohne Erlösung ist.
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Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Taschenbuch
In einem volkstümlichen Viertel Neapels wachsen sie auf, derbes Fluchen auf den Straßen, Familien, die sich seit Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk artet in eine Schießerei aus. Hier gehen sie gemeinsam in die Schule, die unangepasste, draufgängerische Lila und die schüchterne, beflissene Elena, beide darum wetteifernd, besser zu sein als die andere. Bis Lilas Vater sein brillantes Kind zwingt, in der Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem bohrenden Verdacht zurückbleibt, das Leben zu leben, das eigentlich ihrer besten, ihrer so unberechenbaren Freundin zugestanden hätte.
Heute Morgen hat mich Rino angerufen, ich dachte, er wollte wieder einmal Geld, und wappnete mich, es ihm zu verweigern. Doch der Grund seines Anrufs war ein anderer.
Seine Mutter war unauffindbar.
»Seit wann?«
»Seit zwei Wochen.«
»Und da rufst du mich erst jetzt an?«
Mein Tonfall muss ihm feindselig vorgekommen sein, obwohl ich weder verärgert noch aufgebracht war, es lag nur eine Spur von Sarkasmus in meiner Stimme. Er, versuchte dagegenzuhalten, tat es jedoch unbeholfen, verlegen, halb im Dialekt, halb auf Italienisch. Er sagte, er sei fest davon überzeugt, dass seine Mutter irgendwo in Neapel herumstreife, wie immer.
»Auch nachts?«
»Du weißt doch, wie sie ist.«
»Ich weiß es, aber findest du zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen normal?«
»Ja. Du hast sie lange nicht gesehen, ihr Zustand hat sich verschlechtert. Sie schläft überhaupt nicht mehr, kommt, geht, macht, was sie will.«
Immerhin war er am Ende doch besorgt. Er hatte überall herumgefragt, hatte die Runde durch die Krankenhäuser gemacht und sich sogar an die Polizei gewandt. Nichts, seine Mutter war nirgends zu finden. Was für ein reizender Sohn: ein dicker Kerl um die vierzig, der noch nie in seinem Leben gearbeitet hat, immer nur krumme Geschäfte und ein Leben auf großem Fuß. Ich konnte mir denken, mit welcher Gründlichkeit er seine Nachforschungen angestellt hatte. Mit keiner. Er hatte nichts im Kopf, und am Herzen lag ihm nur er selbst.
»Sie ist nicht zufällig bei dir?«, fragte er mich unvermittelt.
Seine Mutter? Hier in Turin? Er wusste genau, wie die Dinge lagen, und redete nur, um irgendwas zu sagen. Er, ja, er war viel unterwegs, mindestens ein Dutzend Mal ist er schon uneingeladen bei mir aufgetaucht. Aber seine Mutter, die ich gern willkommen geheißen hätte, war zeit ihres Lebens nicht aus Neapel herausgekommen. Ich antwortete:
»Nein, zufällig nicht.«
»Bist du sicher?«
»Rino, also bitte: Ich habe gesagt, sie ist nicht hier.«
»Und wo ist sie dann?«
Er brach in Tränen aus, und ich ließ ihm seinen Auftritt, verzweifelte Schluchzer, die unecht begannen und echt weitergingen. Als er fertig war, sagte ich:
»Benimm dich bitte endlich mal, wie sie es gern hätte: Lass sie in Ruhe.«
»Was redest du denn da?«
»Ich meine es ernst. Es hat keinen Zweck. Lerne, auf eigenen Füßen zu stehen, und lass auch mich in Ruhe.«
Ich legte auf.
2
Rinos Mutter heißt Raffaella Cerullo, wurde aber von allen schon immer Lina gerufen. Von mir nicht, ich habe sie nie so genannt. Für mich ist sie seit mehr als sechzig Jahren Lila. Wenn ich plötzlich Lina oder Raffaella zu ihr sagte, würde sie denken, mit unserer Freundschaft wäre es vorbei.
Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte, und nur ich weiß, was sie damit meint. Sie hat nie eine Flucht im Sinn gehabt, einen Identitätswechsel, den Traum, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Sie hat auch nie an Selbstmord gedacht, ist ihr doch die Vorstellung zuwider, Rino könnte mit ihrem toten Körper zu tun haben und müsste sich um ihn kümmern. Nein, ihr schwebte etwas anderes vor: Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein. Und da ich sie gut kenne oder zumindest glaube, sie zu kennen, bin ich fest davon überzeugt, dass sie einen Weg gefunden hat, nicht einmal ein Haar auf dieser Welt zurückzulassen, nirgendwo.
3
Die Tage vergingen. Ich sah meine E-Mails durch, auch meine Papierpost, aber ohne viel Hoffnung. Ich hatte ihr oft geschrieben, sie hatte mir fast nie geantwortet. So ist es immer gewesen. Sie zog das Telefon vor oder die langen
nächtlichen Gespräche, wenn ich in Neapel war.
Ich öffnete meine Schubladen und die Blechschachteln, in denen ich alles Mögliche aufbewahre. Nur Weniges. Vieles hatte ich weggeworfen, vornehmlich Dinge, die mit ihr zu tun hatten, sie weiß das. Ich stellte fest, dass ich rein gar nichts von ihr habe, nicht ein Bild, nicht einen Zettel, nicht das kleinste Geschenk. Ich wunderte mich über mich selbst. War es möglich, dass sie mir in all den Jahren nichts von sich gegeben hatte oder, schlimmer noch, dass ich nicht das Geringste von ihr hatte aufbewahren wollen? Möglich.
Diesmal rief ich Rino an, allerdings widerstrebend. Er antwortete weder auf dem Festnetz noch auf dem Handy. Erst am Abend rief er zurück, er hatte die Ruhe weg. Er schlug den Ton an, mit dem er gern Schuldgefühle auslöst.
»Du hast angerufen, wie ich sehe. Hast du Neuigkeiten?«
»Nein. Du?«
»Nein.«
Er redete wirres Zeug. Wollte sich ans Fernsehen wenden, an eine »Bitte melde dich«-Sendung, einen Aufruf starten, seine Mutter für alles um Verzeihung bitten, sie anflehen, nach Hause zu kommen.
Ich hörte ihm geduldig zu, dann fragte ich:
»Hast du mal einen Blick in ihren Schrank geworfen?«
»Wozu denn?«
Das Naheliegendste war ihm natürlich nicht eingefallen.
»Sieh nach.«
Er ging zum Schrank und entdeckte, dass nichts darin war, kein einziges Kleid seiner Mutter, weder für den Sommer noch für den Winter, nichts als alte Kleiderbügel. Ich schickte ihn auf eine Suchaktion durch die Wohnung. Ihre Schuhe, weg. Die wenigen Bücher, weg. Sämtliche Fotos, weg. Die Filme, weg. Ihr Rechner, weg, und auch die alten Disketten, die man früher benutzte, einfach alles; alles, was mit ihrer Tüftelei eines Computerfans zu tun hatte, der schon Ende der sechziger Jahre, noch in der Lochstreifen-Ära, mit Rechenmaschinen herumexperimentiert hatte. Rino staunte. Ich sagte:
»Lass dir so viel Zeit, wie du willst, doch dann ruf mich an und sag mir, ob du auch nur eine Stecknadel gefunden hast, die ihr gehört.«
Er meldete sich am nächsten Tag, in höchster Aufregung.
»Da ist nichts!«
»Gar nichts?«
»Nein! Sie hat sich aus allen Fotos herausgeschnitten, auf denen wir gemeinsam waren, auch aus denen meiner Kindheit.«
»Hast du auch wirklich gründlich nachgesehen?«
»Überall.«
»Auch im Keller?«
»Ich sag’ doch, überall. Sogar der Karton mit den alten Papieren ist verschwunden, mit, was weiß ich,Geburtsurkunden, Telefonverträgen, Quittungen. Was hat das zu bedeuten? Waren das Einbrecher? Und was haben die gesucht? Was wollen die von mir und meiner Mutter?«
Ich beruhigte ihn, riet ihm, sich nicht aufzuregen. Es sei unwahrscheinlich, dass jemand ausgerechnet von ihm etwas wolle.
»Kann ich eine Weile bei dir wohnen?«
»Ausgeschlossen.«
»Bitte, ich kann nicht schlafen.«
»Du musst allein klarkommen, Rino, ich kann da auch
nichts machen.«
Ich legte auf, und als er wieder anrief, reagierte ich nicht. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch.
Lila will wie immer zu weit gehen, dachte ich.
Sie übertrieb die Sache mit den Spuren maßlos. Sie wollte nicht nur verschwinden, jetzt, mit sechsundsechzig Jahren, sondern auch das ganze Leben auslöschen, das hinter ihr lag.
Ich war unglaublich wütend.
Mal sehen, wer diesmal das letzte Wort behält, sagte ich mir. Ich schaltete den Computer ein und begann unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist.
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Meine geniale Freundin
Taschenbuch
Lila und Elena sind jung, und sie sind verzweifelt. Lila hat am Tage ihrer Hochzeit erfahren, dass ihr Mann sie hintergeht – er macht Geschäfte mit verhassten Camorristi. Arm geboren und durch die Ehe schlagartig zu Geld und Ansehen gekommen, brechen für Lila leidvolle Zeiten an. Elena hingegen verliebt sich Hals über Kopf in einen jungen Studenten, doch der scheint nur mit ihren Gefühlen zu spielen. Sie ist eine regelrechte Vorzeigeschülerin geworden, muss aber feststellen, dass das, was sie sich mühsam erarbeitet hat, in ihrer neapolitanischen Welt kaum etwas gilt. Halt finden die beiden Frauen einzig in ihrer Freundschaft, ihre Liebe füreinander wirkt grenzenlos. Wären sie nur beide nicht immer wieder von dem brennenden Verlangen getrieben, die andere auszustechen.
Im Frühling 1966 vertraute Lila mir in höchster Aufregung eine Blechschachtel mit acht Schreibheften an. Sie sagte, sie könne sie nicht länger zu Hause behalten, sie fürchte, ihr Mann könnte sie lesen. Ich nahm die Schachtel kommentarlos an mich, abgesehen von einer ironischen Bemerkung über die Unmengen von Schnur, mit der sie sie umwickelt hatte. Zu jener Zeit stand es denkbar schlecht um unsere Freundschaft, doch offenbar sah nur ich das so. Die seltenen Male, die wir uns trafen, zeigte sie keinerlei Verlegenheit, war herzlich zu mir und verlor nicht ein feindseliges Wort.
Als sie mich bat, zu schwören, dass ich die Schachtel unter keinen Umständen öffnen würde, schwor ich es. Aber kaum saß ich im Zug, löste ich die Schnur, nahm die Hefte heraus und begann zu lesen. Das waren keine Tagebücher, obwohl detaillierte Schilderungen von Ereignissen aus Lilas Leben seit dem Abschluss der Grundschule darin enthalten waren. Sie waren eher das Zeugnis einer hartnäckigen Selbstdisziplin im Schreiben. Es gab Beschreibungen im Überfluss: vom Ast eines Baumes, von den Teichen, von einem Stein, von einem Laubblatt mit weißer Äderung,von Kochtöpfen, von den verschiedenen Teilen eines Espressokännchens, von einem Kohlenbecken, von Kohle und Holzkohle, es gab eine punktgenaue Zeichnung unseres Hofes und die Beschreibung unserer Straße – des Stradone – sowie des rostigen Eisenskeletts hinter den Teichen, unseres kleinen Parks und der Kirche, des Abholzens der Bäume hinter der Eisenbahn, der Neubauten, der Wohnung ihrer Eltern, des Werkzeugs, mit dem ihr Vater und ihr Bruder Schuhe reparierten, ihrer Handgriffe bei der Arbeit und vor allem von Farben, der Farben sämtlicher Dinge zu verschiedenen Tageszeiten. Doch es gab nicht nur beschreibende Passagen. Auch einzelne Wörter im Dialekt und in der Hochsprache tauchten auf, manchmal eingekreist, ohne Kommentar. Und Übersetzungsübungen auf Latein und Griechisch. Und ganze Abschnitte auf Englisch über die Läden unseres Viertels – des Rione –, über die Waren, über den Karren voller Obst und Gemüse, mit dem Enzo Scanno täglich von Straße zu Straße zog, wobei er den Esel am Halfter führte. Und unzählige Gedanken zu den Büchern, die sie gelesen hatte, zu den Filmen, die sie im Gemeindekino gesehen hatte. Und viele Ansichten,die sie in den Diskussionen mit Pasquale und in den Gesprächen mit mir vertreten hatte. Zwar gab es keine kontinuierliche Abfolge, doch egal, was Lila schriftlich einfing, alles bekam Format, so dass sich selbst auf den Seiten, die sie mit elf oder zwölf Jahren geschrieben hatte, nicht eine kindisch klingende Zeile fand.
Ihre Sätze waren äußerst präzise, die Zeichensetzung akkurat und alles in der Schönschrift gehalten, die Maestra Oliviero uns gelehrt hatte. Nur manchmal schien Lila die Ordnung, die sie sich auferlegt hatte, nicht einhalten zu können, als hätte eine Droge ihre Adern überschwemmt. Dann wurde alles atemlos, ihre Sätze überschlugen sich, die Zeichensetzung verschwand. Meistens brauchte sie nicht lange, um zu einem entspannten, klaren Ton zurückzufinden. Aber manchmal brach sie jäh ab und füllte den Rest der Seite mit kleinen Zeichnungen krummer Bäume, buckliger, rauchender Berge und verzerrter Gesichter. Sowohl ihre Ordnung als auch ihre Unordnung beeindruckten mich, und je mehr ich las, umso mehr fühlte ich mich getäuscht. Wie viel Übung steckte hinter dem Brief, den sie mir Jahre zuvor nach Ischia geschickt hatte: Deshalb war er so gut geschrieben! Ich stopfte alles in die Blechschachtel zurück und nahm mir vor, nicht weiter herumzuschnüffeln.
Doch schon bald wurde ich wieder schwach ...
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Die Geschichte eines neuen Namens
Taschenbuch
Elena und Lila sind inzwischen erwachsene Frauen. Lila hat einen Sohn bekommen und sich von allem befreit, von der Ehe, von ihrem neuen Namen, vom Wohlstand. Sie hat ihrem alten Viertel den Rücken gekehrt, arbeitet unter entwürdigenden Bedingungen in einer Wurstfabrik und befindet sich unversehens im Zentrum politischer Tumulte. Elena hat Neapel ganz verlassen, das Studium beendet und ihren ersten Roman veröffentlicht. Als sie in eine angesehene norditalienische Familie einheiratet und ihrerseits ein Kind bekommt, hält sie ihren gesellschaftlichen Aufstieg für vollendet. Doch schon bald muss sie feststellen, dass sie ständig an Grenzen gerät.
Das letzte Mal habe ich Lila vor fünf Jahren gesehen, im Winter 2005. Wir schlenderten früh am Morgen unsere Straße, den Stradone, entlang, und wie nun schon seit Jahren gelang es uns nicht, uns miteinander wohlzufühlen. Nur ich redete, das weiß ich noch. Sie sang vor sich hin, grüßte die Leute, die aber nicht zurückgrüßten, und die wenigen Male, da sie mich unterbrach, gab sie nur Ausrufe von sich, die keinen erkennbaren Zusammenhang mit dem hatten, was ich sagte. Im Laufe der Zeit war zu viel Schlimmes, teils auch Entsetzliches, geschehen, und um wieder Vertrauen fassen zu können, hätten wir uns verschwiegene Gedanken erzählen müssen, aber mir fehlte die Kraft, um sie zu formulieren, und Lila, die diese Kraft vielleicht besaß, hatte keine Lust dazu, sah keinen Sinn darin.
Ich hatte sie jedenfalls sehr gern, und immer wenn ich nach Neapel kam, wollte ich mich mit ihr treffen, auch wenn ich zugegebenermaßen etwas Angst davor hatte. Sie hatte sich sehr verändert. Das Alter hatte uns beide besiegt, aber während ich nun gegen einen Hang zum Übergewicht ankämpfte, war sie nach wie vor nur Haut und Knochen. Sie hatte kurzes Haar, das sie sich selbst schnitt, schlohweiß nicht weil sie sich bewusst dafür entschieden hätte, sondern aus Nachlässigkeit. Ihr stark gezeichnetes Gesicht erinnerte immer mehr an das ihres Vaters. Sie lachte überdreht, fast kreischend, und sprach zu laut. Sie gestikulierte in einem fort, mit einer so wilden Entschlossenheit, dass es aussah, als wollte sie die
Wohnblocks zerhacken, die Straße, die Passanten, mich.
Wir waren auf der Höhe unserer Grundschule, als uns ein junger Mann, den ich nicht kannte, atemlos überholte und Lila zurief, man habe in den Grünanlagen neben der Kirche eine Frauenleiche gefunden. Wir liefen zu dem kleinen Park, und sich grob den Weg bahnend zog Lila mich in die Ansammlung von Schaulustigen hinein. Die Frau lag auf der Seite, war außerordentlich dick und trug einen unmodernen, dunkelgrünen Regenmantel. Lila erkannte sie sofort, ich nicht. Es war unsere Freundin aus Kindertagen Gigliola Spagnuolo, Michele Solaras Exfrau.
Ich hatte sie jahrzehntelang nicht gesehen. Ihr schönes Gesicht war entstellt, ihre Fußgelenke waren stark geschwollen. Die ehemals braunen Haare waren nun feuerrot und so lang, wie sie sie als junges Mädchen getragen hatte, jedoch dünn, auf der lockeren Erde ausgebreitet. Nur an einem Fuß trug sie einen flachen, stark abgenutzten Schuh; der andere Fuß steckte in einem grauen, am großen Zeh durchlöcherten Wollstrumpf, und der Schuh lag einen Meter weiter, als hätte sie ihn verloren, als sie nach einem Schmerz oder nach einem Schrecken getreten hatte. Ich brach in Tränen aus, Lila sah mich ärgerlich an.
Auf einer Bank in der Nähe warteten wir schweigend, bis man Gigliola wegbrachte. Was ihr passiert war, wie sie gestorben war, wusste man zunächst nicht. Wir gingen zu Lila, in die alte, kleine Wohnung ihrer Eltern, in der sie nun mit ihrem Sohn Rino lebte. Wir redeten über unsere Freundin, Lila sprach schlecht über sie, über das Leben, das sie geführt hatte, über ihre Anmaßungen, über ihre Gemeinheiten. Diesmal war ich es, die nicht zuhören konnte, ich musste an dieses zur Seite gedrehte Gesichtauf der Erde denken, daran, wie schütter das lange Haar gewesen war, an die Flecken weißlicher Kopfhaut. Wie viele Frauen, damals kleine Mädchen wie wir, lebten nun nicht mehr, waren von der Erde verschwunden, weil sie krank geworden waren, weil ihre Nerven dem Schleifpapier der Qualen nicht standgehalten hatten, weil ihr Blut vergossen worden war.Wir blieben eine kurze Weile in der Küche sitzen, ohne dass sich eine von uns dazu aufraffte, das Geschirr abzuräumen, dann gingen wir erneut aus dem Haus.
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Die Geschichte der getrennten Wege
Taschenbuch
Elena ist schließlich doch nach Neapel zurückgekehrt, aus Liebe. Die beste Entscheidung ihres ganzen Lebens, glaubt sie, doch als sich ihr nach und nach die ganze Wahrheit über den geliebten Mann offenbart, fällt sie ins Bodenlose. Lila, die ihren Schicksalsort nie verlassen hat, ist eine erfolgreiche Unternehmerin geworden, aber dieser Erfolg kommt sie teuer zu stehen. Denn sie gerät zusehends in die grausame, chauvinistische Welt des verbrecherischen Neapels, eine Welt, die sie Zeit ihres Lebens verabscheut und bekämpft hat.
Bei allen Verwerfungen und Rivalitäten, die ihre lange gemeinsamen Geschichte prägen – Lila und Elena halten einander die Treue, und fast scheint das Glück eine späte Möglichkeit. Aber beide haben sie übersehen, dass ihre hartnäckigsten Verehrer im Lauf der Jahre zu erbitterten Feinden geworden sind.
Von Oktober 1976 bis zu der Zeit, als ich, 1979, nach Neapel zurückzog, vermied ich es, wieder feste Beziehungen zu Lila aufzubauen. Das war nicht leicht. Sie versuchte fast sofort, erneut in mein Leben einzubrechen, und ich ignorierte sie, tolerierte sie, ertrug sie. Obwohl sie sich so verhielt, als wollte sie mir lediglich in einer schweren Zeit nahe sein, konnte ich nicht vergessen, mit welcher Geringschätzung sie mich behandelt hatte.
Heute denke ich, wenn mich nur die Beschimpfung gekränkt hätte – »du bist eine dumme Gans«, hatte sie am Telefon geschrien, als ich ihr von Nino erzählt hatte, und nie zuvor hatte sie so mit mir gesprochen –, dann hätte ich mich schnell wieder beruhigt. Doch schwerer als diese Beleidigung wog der Hinweis auf Dede und Elsa. »Denk daran, was du deinen Töchtern damit antust«, hatte sie mich zurechtgewiesen, und ich hatte das zunächst nicht weiter beachtet. Aber mit der Zeit bekamen diese Worte immer mehr Gewicht, sie fielen mir häufig ein. Lila hatte nie das geringste Interesse für Dede und Elsa gezeigt, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit erinnerte sie sich nicht einmal an ihre Namen. Wenn ich am Telefon einen klugen Spruch von ihnen wiedergegeben hatte, war sie mir stets ins Wort gefallen und hatte das Thema gewechselt. Und als sie die beiden in der Wohnung von Marcello Solara zum ersten Mal sah, hatte sie sich auf einen flüchtigen Blick und auf ein paar allgemeine Bemerkungen beschränkt, sie hatte nicht im mindesten darauf geachtet, wie hübsch angezogen und gekämmt sie waren und wie gut sie sich ausdrücken konnten, obwohl sie noch so klein waren. Dabei hatte ich sie zur Welt gebracht, ich hatte sie aufgezogen, sie waren ein Teil von mir, ihrer langjährigen Freundin. Sie hätte – wenn schon nicht aus Zuneigung, so doch zumindest aus Höflichkeit – meinem mütterlichen Stolz Raum lassen müssen. Stattdessen hatte sie nicht einmal etwas gutmütigen Spott aufgebracht, sie hatte Gleichgültigkeit gezeigt, mehr nicht. Nun erst – garantiert aus Eifersucht, weil ich mir Nino geangelt hatte – waren ihr die Mädchen wieder eingefallen, und sie hatte unterstreichen wollen, was für eine schlechte Mutter ich war, die nur für ihr eigenes Glück deren Unglück verursachte. Immer wenn ich daran dachte, wurde ich nervös. Hatte Lila sich etwa um Gennaro gekümmert, als sie Stefano verlassen hatte, als sie den Jungen wegen ihrer Arbeit in der Fabrik zur Nachbarin gebracht und als sie ihn zu mir geschickt hatte, als ob sie ihn loswerden wollte? Ja doch, ich hatte meine Fehler, aber ich war unzweifelhaft eine bessere Mutter als sie.
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Die Geschichte des verlorenen Kindes
Taschenbuch
Sie könnten unterschiedlicher kaum sein und sind doch unzertrennlich, Lila und Elena, schon als junge Mädchen beste Freundinnen. Und sie werden es ihr ganzes Leben lang bleiben, über sechs Jahrzehnte hinweg, bis die eine spurlos verschwindet und die andere auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das Rätsel dieses Verschwindens zu kommen.
Im Neapel der fünfziger Jahre wachsen sie auf, in einem armen, überbordenden, volkstümlichen Viertel, derbes Fluchen auf den Straßen, Familien, die sich seit Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk artet in eine Schießerei aus. Hier gehen sie in die Schule, die unangepasste, draufgängerische Schustertochter Lila und die schüchterne, beflissene Elena, Tochter eines Pförtners, beide darum wetteifernd, besser zu sein als die andere. Bis Lilas Vater seine noch junge Tochter zwingt, dauerhaft in der Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem bohrenden Verdacht zurückbleibt, eine Gelegenheit zu nutzen, die eigentlich ihrer Freundin zugestanden hätte.
Ihre Wege trennen sich, die eine geht fort und studiert und wird Schriftstellerin, die andere wird Neapel nie verlassen, und trotzdem bleiben Elena und Lila sich nahe, sie begleiten einander durch erste Liebesaffären, Ehen, die Erfahrung von Mutterschaft, durch Jahre der Arbeit und Episoden politischer Bewusstwerdung, zwei eigensinnige, unnachgiebige Frauen, die sich nicht zuletzt gegen die Zumutungen einer brutalen, von Männern beherrschten Welt behaupten müssen.
Sie bleiben einander nahe, aber es ist stets eine zwiespältige Nähe: aus Befremden und Zuneigung, aus Rivalität und Innigkeit, aus Missgunst und etwas, das größer und stiller ist als Lieben. Liegt hier das Geheimnis von Lilas Verschwinden?
Elena Ferrante hat ein literarisches Meisterwerk von unermesslicher Strahlkraft geschrieben, ein von hinreißenden Figuren bevölkertes Sittengemälde und ein zupackend aufrichtiges Epos – über die rettende und zerstörerische, die weltverändernde Kraft einer Freundschaft, die ein ganzes langes Leben währt.
Heute Morgen hat mich Rino angerufen, ich dachte, er wollte wieder einmal Geld, und wappnete mich, es ihm zu verweigern. Doch der Grund seines Anrufs war ein anderer.
Seine Mutter war unauffindbar.
»Seit wann?«
»Seit zwei Wochen.«
»Und da rufst du mich erst jetzt an?«
Mein Tonfall muss ihm feindselig vorgekommen sein, obwohl ich weder verärgert noch aufgebracht war, es lag nur eine Spur von Sarkasmus in meiner Stimme. Er, versuchte dagegenzuhalten, tat es jedoch unbeholfen, verlegen, halb im Dialekt, halb auf Italienisch. Er sagte, er sei fest davon überzeugt, dass seine Mutter irgendwo in Neapel herumstreife, wie immer.
»Auch nachts?«
»Du weißt doch, wie sie ist.«
»Ich weiß es, aber findest du zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen normal?«
»Ja. Du hast sie lange nicht gesehen, ihr Zustand hat sich verschlechtert. Sie schläft überhaupt nicht mehr, kommt, geht, macht, was sie will.«
Immerhin war er am Ende doch besorgt. Er hatte überall herumgefragt, hatte die Runde durch die Krankenhäuser gemacht und sich sogar an die Polizei gewandt. Nichts, seine Mutter war nirgends zu finden. Was für ein reizender Sohn: ein dicker Kerl um die vierzig, der noch nie in seinem Leben gearbeitet hat, immer nur krumme Geschäfte und ein Leben auf großem Fuß. Ich konnte mir denken, mit welcher Gründlichkeit er seine Nachforschungen angestellt hatte. Mit keiner. Er hatte nichts im Kopf, und am Herzen lag ihm nur er selbst.
»Sie ist nicht zufällig bei dir?«, fragte er mich unvermittelt.
Seine Mutter? Hier in Turin? Er wusste genau, wie die Dinge lagen, und redete nur, um irgendwas zu sagen. Er, ja, er war viel unterwegs, mindestens ein Dutzend Mal ist er schon uneingeladen bei mir aufgetaucht. Aber seine Mutter, die ich gern willkommen geheißen hätte, war zeit ihres Lebens nicht aus Neapel herausgekommen. Ich antwortete:
»Nein, zufällig nicht.«
»Bist du sicher?«
»Rino, also bitte: Ich habe gesagt, sie ist nicht hier.«
»Und wo ist sie dann?«
Er brach in Tränen aus, und ich ließ ihm seinen Auftritt, verzweifelte Schluchzer, die unecht begannen und echt weitergingen. Als er fertig war, sagte ich:
»Benimm dich bitte endlich mal, wie sie es gern hätte: Lass sie in Ruhe.«
»Was redest du denn da?«
»Ich meine es ernst. Es hat keinen Zweck. Lerne, auf eigenen Füßen zu stehen, und lass auch mich in Ruhe.«
Ich legte auf.
2
Rinos Mutter heißt Raffaella Cerullo, wurde aber von allen schon immer Lina gerufen. Von mir nicht, ich habe sie nie so genannt. Für mich ist sie seit mehr als sechzig Jahren Lila. Wenn ich plötzlich Lina oder Raffaella zu ihr sagte, würde sie denken, mit unserer Freundschaft wäre es vorbei.
Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte, und nur ich weiß, was sie damit meint. Sie hat nie eine Flucht im Sinn gehabt, einen Identitätswechsel, den Traum, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Sie hat auch nie an Selbstmord gedacht, ist ihr doch die Vorstellung zuwider, Rino könnte mit ihrem toten Körper zu tun haben und müsste sich um ihn kümmern. Nein, ihr schwebte etwas anderes vor: Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein. Und da ich sie gut kenne oder zumindest glaube, sie zu kennen, bin ich fest davon überzeugt, dass sie einen Weg gefunden hat, nicht einmal ein Haar auf dieser Welt zurückzulassen, nirgendwo.
3
Die Tage vergingen. Ich sah meine E-Mails durch, auch meine Papierpost, aber ohne viel Hoffnung. Ich hatte ihr oft geschrieben, sie hatte mir fast nie geantwortet. So ist es immer gewesen. Sie zog das Telefon vor oder die langen
nächtlichen Gespräche, wenn ich in Neapel war.
Ich öffnete meine Schubladen und die Blechschachteln, in denen ich alles Mögliche aufbewahre. Nur Weniges. Vieles hatte ich weggeworfen, vornehmlich Dinge, die mit ihr zu tun hatten, sie weiß das. Ich stellte fest, dass ich rein gar nichts von ihr habe, nicht ein Bild, nicht einen Zettel, nicht das kleinste Geschenk. Ich wunderte mich über mich selbst. War es möglich, dass sie mir in all den Jahren nichts von sich gegeben hatte oder, schlimmer noch, dass ich nicht das Geringste von ihr hatte aufbewahren wollen? Möglich.
Diesmal rief ich Rino an, allerdings widerstrebend. Er antwortete weder auf dem Festnetz noch auf dem Handy. Erst am Abend rief er zurück, er hatte die Ruhe weg. Er schlug den Ton an, mit dem er gern Schuldgefühle auslöst.
»Du hast angerufen, wie ich sehe. Hast du Neuigkeiten?«
»Nein. Du?«
»Nein.«
Er redete wirres Zeug. Wollte sich ans Fernsehen wenden, an eine »Bitte melde dich«-Sendung, einen Aufruf starten, seine Mutter für alles um Verzeihung bitten, sie anflehen, nach Hause zu kommen.
Ich hörte ihm geduldig zu, dann fragte ich:
»Hast du mal einen Blick in ihren Schrank geworfen?«
»Wozu denn?«
Das Naheliegendste war ihm natürlich nicht eingefallen.
»Sieh nach.«
Er ging zum Schrank und entdeckte, dass nichts darin war, kein einziges Kleid seiner Mutter, weder für den Sommer noch für den Winter, nichts als alte Kleiderbügel. Ich schickte ihn auf eine Suchaktion durch die Wohnung. Ihre Schuhe, weg. Die wenigen Bücher, weg. Sämtliche Fotos, weg. Die Filme, weg. Ihr Rechner, weg, und auch die alten Disketten, die man früher benutzte, einfach alles; alles, was mit ihrer Tüftelei eines Computerfans zu tun hatte, der schon Ende der sechziger Jahre, noch in der Lochstreifen-Ära, mit Rechenmaschinen herumexperimentiert hatte. Rino staunte. Ich sagte:
»Lass dir so viel Zeit, wie du willst, doch dann ruf mich an und sag mir, ob du auch nur eine Stecknadel gefunden hast, die ihr gehört.«
Er meldete sich am nächsten Tag, in höchster Aufregung.
»Da ist nichts!«
»Gar nichts?«
»Nein! Sie hat sich aus allen Fotos herausgeschnitten, auf denen wir gemeinsam waren, auch aus denen meiner Kindheit.«
»Hast du auch wirklich gründlich nachgesehen?«
»Überall.«
»Auch im Keller?«
»Ich sag’ doch, überall. Sogar der Karton mit den alten Papieren ist verschwunden, mit, was weiß ich,Geburtsurkunden, Telefonverträgen, Quittungen. Was hat das zu bedeuten? Waren das Einbrecher? Und was haben die gesucht? Was wollen die von mir und meiner Mutter?«
Ich beruhigte ihn, riet ihm, sich nicht aufzuregen. Es sei unwahrscheinlich, dass jemand ausgerechnet von ihm etwas wolle.
»Kann ich eine Weile bei dir wohnen?«
»Ausgeschlossen.«
»Bitte, ich kann nicht schlafen.«
»Du musst allein klarkommen, Rino, ich kann da auch
nichts machen.«
Ich legte auf, und als er wieder anrief, reagierte ich nicht. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch.
Lila will wie immer zu weit gehen, dachte ich.
Sie übertrieb die Sache mit den Spuren maßlos. Sie wollte nicht nur verschwinden, jetzt, mit sechsundsechzig Jahren, sondern auch das ganze Leben auslöschen, das hinter ihr lag.
Ich war unglaublich wütend.
Mal sehen,wer diesmal das letzte Wort behält, sagte ich mir. Ich schaltete den Computer ein und begann unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist.
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Die Neapolitanische Saga
Einmalige Geschenkausgabe – 4 Bände im Schuber
Sie könnten unterschiedlicher kaum sein und sind doch unzertrennlich, Lila und Elena, schon als junge Mädchen beste Freundinnen. Und sie werden es ihr ganzes Leben lang bleiben, über sechs Jahrzehnte hinweg, bis die eine spurlos verschwindet und die andere auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das Rätsel dieses Verschwindens zu kommen.
Im Neapel der fünfziger Jahre wachsen sie auf, in einem armen, überbordenden, volkstümlichen Viertel, derbes Fluchen auf den Straßen, Familien, die sich seit Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk artet in eine Schießerei aus. Hier gehen sie in die Schule, die unangepasste, draufgängerische Schustertochter Lila und die schüchterne, beflissene Elena, Tochter eines Pförtners, beide darum wetteifernd, besser zu sein als die andere. Bis Lilas Vater seine noch junge Tochter zwingt, dauerhaft in der Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem bohrenden Verdacht zurückbleibt, eine Gelegenheit zu nutzen, die eigentlich ihrer Freundin zugestanden hätte.
Ihre Wege trennen sich, die eine geht fort und studiert und wird Schriftstellerin, die andere wird Neapel nie verlassen, und trotzdem bleiben Elena und Lila sich nahe, sie begleiten einander durch erste Liebesaffären, Ehen, die Erfahrung von Mutterschaft, durch Jahre der Arbeit und Episoden politischer Bewusstwerdung, zwei eigensinnige, unnachgiebige Frauen, die sich nicht zuletzt gegen die Zumutungen einer brutalen, von Männern beherrschten Welt behaupten müssen.
Sie bleiben einander nahe, aber es ist stets eine zwiespältige Nähe: aus Befremden und Zuneigung, aus Rivalität und Innigkeit, aus Missgunst und etwas, das größer und stiller ist als Lieben. Liegt hier das Geheimnis von Lilas Verschwinden?
Elena Ferrante hat ein literarisches Meisterwerk von unermesslicher Strahlkraft geschrieben, ein von hinreißenden Figuren bevölkertes Sittengemälde und ein zupackend aufrichtiges Epos – über die rettende und zerstörerische, die weltverändernde Kraft einer Freundschaft, die ein ganzes langes Leben währt.
Das Lesezeichen zu Band 1 finden Sie hier »
Heute Morgen hat mich Rino angerufen, ich dachte, er wollte wieder einmal Geld, und wappnete mich, es ihm zu verweigern. Doch der Grund seines Anrufs war ein anderer.
Seine Mutter war unauffindbar.
»Seit wann?«
»Seit zwei Wochen.«
»Und da rufst du mich erst jetzt an?«
Mein Tonfall muss ihm feindselig vorgekommen sein, obwohl ich weder verärgert noch aufgebracht war, es lag nur eine Spur von Sarkasmus in meiner Stimme. Er, versuchte dagegenzuhalten, tat es jedoch unbeholfen, verlegen, halb im Dialekt, halb auf Italienisch. Er sagte, er sei fest davon überzeugt, dass seine Mutter irgendwo in Neapel herumstreife, wie immer.
»Auch nachts?«
»Du weißt doch, wie sie ist.«
»Ich weiß es, aber findest du zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen normal?«
»Ja. Du hast sie lange nicht gesehen, ihr Zustand hat sich verschlechtert. Sie schläft überhaupt nicht mehr, kommt, geht, macht, was sie will.«
Immerhin war er am Ende doch besorgt. Er hatte überall herumgefragt, hatte die Runde durch die Krankenhäuser gemacht und sich sogar an die Polizei gewandt. Nichts, seine Mutter war nirgends zu finden. Was für ein reizender Sohn: ein dicker Kerl um die vierzig, der noch nie in seinem Leben gearbeitet hat, immer nur krumme Geschäfte und ein Leben auf großem Fuß. Ich konnte mir denken, mit welcher Gründlichkeit er seine Nachforschungen angestellt hatte. Mit keiner. Er hatte nichts im Kopf, und am Herzen lag ihm nur er selbst.
»Sie ist nicht zufällig bei dir?«, fragte er mich unvermittelt.
Seine Mutter? Hier in Turin? Er wusste genau, wie die Dinge lagen, und redete nur, um irgendwas zu sagen. Er, ja, er war viel unterwegs, mindestens ein Dutzend Mal ist er schon uneingeladen bei mir aufgetaucht. Aber seine Mutter, die ich gern willkommen geheißen hätte, war zeit ihres Lebens nicht aus Neapel herausgekommen. Ich antwortete:
»Nein, zufällig nicht.«
»Bist du sicher?«
»Rino, also bitte: Ich habe gesagt, sie ist nicht hier.«
»Und wo ist sie dann?«
Er brach in Tränen aus, und ich ließ ihm seinen Auftritt, verzweifelte Schluchzer, die unecht begannen und echt weitergingen. Als er fertig war, sagte ich:
»Benimm dich bitte endlich mal, wie sie es gern hätte: Lass sie in Ruhe.«
»Was redest du denn da?«
»Ich meine es ernst. Es hat keinen Zweck. Lerne, auf eigenen Füßen zu stehen, und lass auch mich in Ruhe.«
Ich legte auf.
2
Rinos Mutter heißt Raffaella Cerullo, wurde aber von allen schon immer Lina gerufen. Von mir nicht, ich habe sie nie so genannt. Für mich ist sie seit mehr als sechzig Jahren Lila. Wenn ich plötzlich Lina oder Raffaella zu ihr sagte, würde sie denken, mit unserer Freundschaft wäre es vorbei.
Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte, und nur ich weiß, was sie damit meint. Sie hat nie eine Flucht im Sinn gehabt, einen Identitätswechsel, den Traum, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Sie hat auch nie an Selbstmord gedacht, ist ihr doch die Vorstellung zuwider, Rino könnte mit ihrem toten Körper zu tun haben und müsste sich um ihn kümmern. Nein, ihr schwebte etwas anderes vor: Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein. Und da ich sie gut kenne oder zumindest glaube, sie zu kennen, bin ich fest davon überzeugt, dass sie einen Weg gefunden hat, nicht einmal ein Haar auf dieser Welt zurückzulassen, nirgendwo.
3
Die Tage vergingen. Ich sah meine E-Mails durch, auch meine Papierpost, aber ohne viel Hoffnung. Ich hatte ihr oft geschrieben, sie hatte mir fast nie geantwortet. So ist es immer gewesen. Sie zog das Telefon vor oder die langen
nächtlichen Gespräche, wenn ich in Neapel war.
Ich öffnete meine Schubladen und die Blechschachteln, in denen ich alles Mögliche aufbewahre. Nur Weniges. Vieles hatte ich weggeworfen, vornehmlich Dinge, die mit ihr zu tun hatten, sie weiß das. Ich stellte fest, dass ich rein gar nichts von ihr habe, nicht ein Bild, nicht einen Zettel, nicht das kleinste Geschenk. Ich wunderte mich über mich selbst. War es möglich, dass sie mir in all den Jahren nichts von sich gegeben hatte oder, schlimmer noch, dass ich nicht das Geringste von ihr hatte aufbewahren wollen? Möglich.
Diesmal rief ich Rino an, allerdings widerstrebend. Er antwortete weder auf dem Festnetz noch auf dem Handy. Erst am Abend rief er zurück, er hatte die Ruhe weg. Er schlug den Ton an, mit dem er gern Schuldgefühle auslöst.
»Du hast angerufen, wie ich sehe. Hast du Neuigkeiten?«
»Nein. Du?«
»Nein.«
Er redete wirres Zeug. Wollte sich ans Fernsehen wenden, an eine »Bitte melde dich«-Sendung, einen Aufruf starten, seine Mutter für alles um Verzeihung bitten, sie anflehen, nach Hause zu kommen.
Ich hörte ihm geduldig zu, dann fragte ich:
»Hast du mal einen Blick in ihren Schrank geworfen?«
»Wozu denn?«
Das Naheliegendste war ihm natürlich nicht eingefallen.
»Sieh nach.«
Er ging zum Schrank und entdeckte, dass nichts darin war, kein einziges Kleid seiner Mutter, weder für den Sommer noch für den Winter, nichts als alte Kleiderbügel. Ich schickte ihn auf eine Suchaktion durch die Wohnung. Ihre Schuhe, weg. Die wenigen Bücher, weg. Sämtliche Fotos, weg. Die Filme, weg. Ihr Rechner, weg, und auch die alten Disketten, die man früher benutzte, einfach alles; alles, was mit ihrer Tüftelei eines Computerfans zu tun hatte, der schon Ende der sechziger Jahre, noch in der Lochstreifen-Ära, mit Rechenmaschinen herumexperimentiert hatte. Rino staunte. Ich sagte:
»Lass dir so viel Zeit, wie du willst, doch dann ruf mich an und sag mir, ob du auch nur eine Stecknadel gefunden hast, die ihr gehört.«
Er meldete sich am nächsten Tag, in höchster Aufregung.
»Da ist nichts!«
»Gar nichts?«
»Nein! Sie hat sich aus allen Fotos herausgeschnitten, auf denen wir gemeinsam waren, auch aus denen meiner Kindheit.«
»Hast du auch wirklich gründlich nachgesehen?«
»Überall.«
»Auch im Keller?«
»Ich sag’ doch, überall. Sogar der Karton mit den alten Papieren ist verschwunden, mit, was weiß ich,Geburtsurkunden, Telefonverträgen, Quittungen. Was hat das zu bedeuten? Waren das Einbrecher? Und was haben die gesucht? Was wollen die von mir und meiner Mutter?«
Ich beruhigte ihn, riet ihm, sich nicht aufzuregen. Es sei unwahrscheinlich, dass jemand ausgerechnet von ihm etwas wolle.
»Kann ich eine Weile bei dir wohnen?«
»Ausgeschlossen.«
»Bitte, ich kann nicht schlafen.«
»Du musst allein klarkommen, Rino, ich kann da auch
nichts machen.«
Ich legte auf, und als er wieder anrief, reagierte ich nicht. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch.
Lila will wie immer zu weit gehen, dachte ich.
Sie übertrieb die Sache mit den Spuren maßlos. Sie wollte nicht nur verschwinden, jetzt, mit sechsundsechzig Jahren, sondern auch das ganze Leben auslöschen, das hinter ihr lag.
Ich war unglaublich wütend.
Mal sehen,wer diesmal das letzte Wort behält, sagte ich mir. Ich schaltete den Computer ein und begann unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist.
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Meine geniale Freundin
Band 1 der Neapolitanischen Saga
Lila und Elena sind sechzehn Jahre alt, und sie sind verzweifelt. Lila hat noch am Tage ihrer Hochzeit erfahren, dass ihr Mann sie hintergeht – er macht Geschäfte mit den allseits verhassten Solara-Brüdern, den lokalen Camorristi. Für Lila, arm geboren und durch die Ehe schlagartig zu Geld und Ansehen gekommen, brechen leidvolle Zeiten an. Elena hingegen verliebt sich Hals über Kopf in einen jungen Studenten, doch der scheint nur mit ihren Gefühlen zu spielen. Sie ist eine regelrechte Vorzeigeschülerin geworden, muss aber feststellen, dass das, was sie sich mühsam erarbeitet hat, in ihrer neapolitanischen Welt kaum etwas gilt.
Trotz all dieser Widrigkeiten beharren Lila und Elena immer weiter darauf, ihr Leben selbst zu bestimmen, auch wenn der Preis, den sie dafür zahlen müssen, bisweilen brutal ist. Woran die beiden jungen Frauen sich festhalten, ist ihre Freundschaft. Nur: Können sie einander wirklich vertrauen?
Elena Ferrante hat einen Weltbestseller geschrieben. Ein Gipfelwerk der zeitgenössischen Literatur. Und einen Roman, den man erschüttert und begeistert liest!
Das Lesezeichen zu Band 2 finden Sie hier »
Im Frühling 1966 vertraute Lila mir in höchster Aufregung eine Blechschachtel mit acht Schreibheften an. Sie sagte, sie könne sie nicht länger zu Hause behalten, sie fürchte, ihr Mann könnte sie lesen. Ich nahm die Schachtel kommentarlos an mich, abgesehen von einer ironischen Bemerkung über die Unmengen von Schnur, mit der sie sie umwickelt hatte. Zu jener Zeit stand es denkbar schlecht um unsere Freundschaft, doch offenbar sah nur ich das so. Die seltenen Male, die wir uns trafen, zeigte sie keinerlei Verlegenheit, war herzlich zu mir und verlor nicht ein feindseliges Wort.
Als sie mich bat, zu schwören, dass ich die Schachtel unter keinen Umständen öffnen würde, schwor ich es. Aber kaum saß ich im Zug, löste ich die Schnur, nahm die Hefte heraus und begann zu lesen. Das waren keine Tagebücher, obwohl detaillierte Schilderungen von Ereignissen aus Lilas Leben seit dem Abschluss der Grundschule darin enthalten waren. Sie waren eher das Zeugnis einer hartnäckigen Selbstdisziplin im Schreiben. Es gab Beschreibungen im Überfluss: vom Ast eines Baumes, von den Teichen, von einem Stein, von einem Laubblatt mit weißer Äderung,von Kochtöpfen, von den verschiedenen Teilen eines Espressokännchens, von einem Kohlenbecken, von Kohle und Holzkohle, es gab eine punktgenaue Zeichnung unseres Hofes und die Beschreibung unserer Straße – des Stradone – sowie des rostigen Eisenskeletts hinter den Teichen, unseres kleinen Parks und der Kirche, des Abholzens der Bäume hinter der Eisenbahn, der Neubauten, der Wohnung ihrer Eltern, des Werkzeugs, mit dem ihr Vater und ihr Bruder Schuhe reparierten, ihrer Handgriffe bei der Arbeit und vor allem von Farben, der Farben sämtlicher Dinge zu verschiedenen Tageszeiten. Doch es gab nicht nur beschreibende Passagen. Auch einzelne Wörter im Dialekt und in der Hochsprache tauchten auf, manchmal eingekreist, ohne Kommentar. Und Übersetzungsübungen auf Latein und Griechisch. Und ganze Abschnitte auf Englisch über die Läden unseres Viertels – des Rione –, über die Waren, über den Karren voller Obst und Gemüse, mit dem Enzo Scanno täglich von Straße zu Straße zog, wobei er den Esel am Halfter führte. Und unzählige Gedanken zu den Büchern, die sie gelesen hatte, zu den Filmen, die sie im Gemeindekino gesehen hatte. Und viele Ansichten,die sie in den Diskussionen mit Pasquale und in den Gesprächen mit mir vertreten hatte. Zwar gab es keine kontinuierliche Abfolge, doch egal, was Lila schriftlich einfing, alles bekam Format, so dass sich selbst auf den Seiten, die sie mit elf oder zwölf Jahren geschrieben hatte, nicht eine kindisch klingende Zeile fand.
Ihre Sätze waren äußerst präzise, die Zeichensetzung akkurat und alles in der Schönschrift gehalten, die Maestra Oliviero uns gelehrt hatte. Nur manchmal schien Lila die Ordnung, die sie sich auferlegt hatte, nicht einhalten zu können, als hätte eine Droge ihre Adern überschwemmt. Dann wurde alles atemlos, ihre Sätze überschlugen sich, die Zeichensetzung verschwand. Meistens brauchte sie nicht lange, um zu einem entspannten, klaren Ton zurückzufinden. Aber manchmal brach sie jäh ab und füllte den Rest der Seite mit kleinen Zeichnungen krummer Bäume, buckliger, rauchender Berge und verzerrter Gesichter. Sowohl ihre Ordnung als auch ihre Unordnung beeindruckten mich, und je mehr ich las, umso mehr fühlte ich mich getäuscht. Wie viel Übung steckte hinter dem Brief, den sie mir Jahre zuvor nach Ischia geschickt hatte: Deshalb war er so gut geschrieben! Ich stopfte alles in die Blechschachtel zurück und nahm mir vor, nicht weiter herumzuschnüffeln.
Doch schon bald wurde ich wieder schwach ...
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Die Geschichte eines neuen Namens
Band 2 der Neapolitanischen Saga
Es sind die turbulenten siebziger Jahre und die beiden inzwischen erwachsene Frauen. Lila ist Mutter geworden und hat sich befreit und alles hingeworfen – den Wohlstand, ihre Ehe, ihren neuen Namen – und arbeitet unter entwürdigenden Bedingungen in einer Fabrik. Elena hat ihr altes neapolitanisches Viertel hinter sich gelassen, das Studium beendet und ihren ersten Roman veröffentlicht. Als sie in eine angesehene norditalienische Familie einheiratet und ihrerseits ein Kind bekommt, hält sie ihren gesellschaftlichen Aufstieg für vollendet. Doch schon bald muss sie feststellen, dass sie ständig an Grenzen gerät.
Ganze Welten trennen die Freundinnen, doch gerade in diesen schwierigen Jahren sind sie füreinander da, die Nähe, die sie verbindet, scheint unverbrüchlich. Würde da nur nicht die langjährige Konkurrenz um einen bestimmten Mann immer deutlicher zutage treten.
Das letzte Mal habe ich Lila vor fünf Jahren gesehen, im Winter 2005. Wir schlenderten früh am Morgen unsere Straße, den Stradone, entlang, und wie nun schon seit Jahren gelang es uns nicht, uns miteinander wohlzufühlen. Nur ich redete, das weiß ich noch. Sie sang vor sich hin, grüßte die Leute, die aber nicht zurückgrüßten, und die wenigen Male, da sie mich unterbrach, gab sie nur Ausrufe von sich, die keinen erkennbaren Zusammenhang mit dem hatten, was ich sagte. Im Laufe der Zeit war zu viel Schlimmes, teils auch Entsetzliches, geschehen, und um wieder Vertrauen fassen zu können, hätten wir uns verschwiegene Gedanken erzählen müssen, aber mir fehlte die Kraft, um sie zu formulieren, und Lila, die diese Kraft vielleicht besaß, hatte keine Lust dazu, sah keinen Sinn darin.
Ich hatte sie jedenfalls sehr gern, und immer wenn ich nach Neapel kam, wollte ich mich mit ihr treffen, auch wenn ich zugegebenermaßen etwas Angst davor hatte. Sie hatte sich sehr verändert. Das Alter hatte uns beide besiegt, aber während ich nun gegen einen Hang zum Übergewicht ankämpfte, war sie nach wie vor nur Haut und Knochen. Sie hatte kurzes Haar, das sie sich selbst schnitt, schlohweiß nicht weil sie sich bewusst dafür entschieden hätte, sondern aus Nachlässigkeit. Ihr stark gezeichnetes Gesicht erinnerte immer mehr an das ihres Vaters. Sie lachte überdreht, fast kreischend, und sprach zu laut. Sie gestikulierte in einem fort, mit einer so wilden Entschlossenheit, dass es aussah, als wollte sie die
Wohnblocks zerhacken, die Straße, die Passanten, mich.
Wir waren auf der Höhe unserer Grundschule, als uns ein junger Mann, den ich nicht kannte, atemlos überholte und Lila zurief, man habe in den Grünanlagen neben der Kirche eine Frauenleiche gefunden. Wir liefen zu dem kleinen Park, und sich grob den Weg bahnend zog Lila mich in die Ansammlung von Schaulustigen hinein. Die Frau lag auf der Seite, war außerordentlich dick und trug einen unmodernen, dunkelgrünen Regenmantel. Lila erkannte sie sofort, ich nicht. Es war unsere Freundin aus Kindertagen Gigliola Spagnuolo, Michele Solaras Exfrau.
Ich hatte sie jahrzehntelang nicht gesehen. Ihr schönes Gesicht war entstellt, ihre Fußgelenke waren stark geschwollen. Die ehemals braunen Haare waren nun feuerrot und so lang, wie sie sie als junges Mädchen getragen hatte, jedoch dünn, auf der lockeren Erde ausgebreitet. Nur an einem Fuß trug sie einen flachen, stark abgenutzten Schuh; der andere Fuß steckte in einem grauen, am großen Zeh durchlöcherten Wollstrumpf, und der Schuh lag einen Meter weiter, als hätte sie ihn verloren, als sie nach einem Schmerz oder nach einem Schrecken getreten hatte. Ich brach in Tränen aus, Lila sah mich ärgerlich an.
Auf einer Bank in der Nähe warteten wir schweigend, bis man Gigliola wegbrachte. Was ihr passiert war, wie sie gestorben war, wusste man zunächst nicht. Wir gingen zu Lila, in die alte, kleine Wohnung ihrer Eltern, in der sie nun mit ihrem Sohn Rino lebte. Wir redeten über unsere Freundin, Lila sprach schlecht über sie, über das Leben, das sie geführt hatte, über ihre Anmaßungen, über ihre Gemeinheiten. Diesmal war ich es, die nicht zuhören konnte, ich musste an dieses zur Seite gedrehte Gesichtauf der Erde denken, daran, wie schütter das lange Haar gewesen war, an die Flecken weißlicher Kopfhaut. Wie viele Frauen, damals kleine Mädchen wie wir, lebten nun nicht mehr, waren von der Erde verschwunden, weil sie krank geworden waren, weil ihre Nerven dem Schleifpapier der Qualen nicht standgehalten hatten, weil ihr Blut vergossen worden war.Wir blieben eine kurze Weile in der Küche sitzen, ohne dass sich eine von uns dazu aufraffte, das Geschirr abzuräumen, dann gingen wir erneut aus dem Haus.
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Die Geschichte der getrennten Wege
Band 3 der Neapolitanischen Saga
Elena ist schließlich doch nach Neapel zurückgekehrt, aus Liebe. Die beste Entscheidung ihres ganzen Lebens, glaubt sie, doch als sich ihr nach und nach die ganze Wahrheit über den geliebten Mann offenbart, fällt sie ins Bodenlose. Lila, die ihren Schicksalsort nie verlassen hat, ist eine erfolgreiche Unternehmerin geworden, aber dieser Erfolg kommt sie teuer zu stehen. Denn sie gerät zusehends in die grausame, chauvinistische Welt des verbrecherischen Neapels, eine Welt, die sie Zeit ihres Lebens verabscheut und bekämpft hat.
Bei allen Verwerfungen und Rivalitäten, die ihre lange gemeinsamen Geschichte prägen – Lila und Elena halten einander die Treue, und fast scheint das Glück eine späte Möglichkeit. Aber beide haben sie übersehen, dass ihre hartnäckigsten Verehrer im Lauf der Jahre zu erbitterten Feinden geworden sind.
Von Oktober 1976 bis zu der Zeit, als ich, 1979, nach Neapel zurückzog, vermied ich es, wieder feste Beziehungen zu Lila aufzubauen. Das war nicht leicht. Sie versuchte fast sofort, erneut in mein Leben einzubrechen, und ich ignorierte sie, tolerierte sie, ertrug sie. Obwohl sie sich so verhielt, als wollte sie mir lediglich in einer schweren Zeit nahe sein, konnte ich nicht vergessen, mit welcher Geringschätzung sie mich behandelt hatte.
Heute denke ich, wenn mich nur die Beschimpfung gekränkt hätte – »du bist eine dumme Gans«, hatte sie am Telefon geschrien, als ich ihr von Nino erzählt hatte, und nie zuvor hatte sie so mit mir gesprochen –, dann hätte ich mich schnell wieder beruhigt. Doch schwerer als diese Beleidigung wog der Hinweis auf Dede und Elsa. »Denk daran, was du deinen Töchtern damit antust«, hatte sie mich zurechtgewiesen, und ich hatte das zunächst nicht weiter beachtet. Aber mit der Zeit bekamen diese Worte immer mehr Gewicht, sie fielen mir häufig ein. Lila hatte nie das geringste Interesse für Dede und Elsa gezeigt, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit erinnerte sie sich nicht einmal an ihre Namen. Wenn ich am Telefon einen klugen Spruch von ihnen wiedergegeben hatte, war sie mir stets ins Wort gefallen und hatte das Thema gewechselt. Und als sie die beiden in der Wohnung von Marcello Solara zum ersten Mal sah, hatte sie sich auf einen flüchtigen Blick und auf ein paar allgemeine Bemerkungen beschränkt, sie hatte nicht im mindesten darauf geachtet, wie hübsch angezogen und gekämmt sie waren und wie gut sie sich ausdrücken konnten, obwohl sie noch so klein waren. Dabei hatte ich sie zur Welt gebracht, ich hatte sie aufgezogen, sie waren ein Teil von mir, ihrer langjährigen Freundin. Sie hätte – wenn schon nicht aus Zuneigung, so doch zumindest aus Höflichkeit – meinem mütterlichen Stolz Raum lassen müssen. Stattdessen hatte sie nicht einmal etwas gutmütigen Spott aufgebracht, sie hatte Gleichgültigkeit gezeigt, mehr nicht. Nun erst – garantiert aus Eifersucht, weil ich mir Nino geangelt hatte – waren ihr die Mädchen wieder eingefallen, und sie hatte unterstreichen wollen, was für eine schlechte Mutter ich war, die nur für ihr eigenes Glück deren Unglück verursachte. Immer wenn ich daran dachte, wurde ich nervös. Hatte Lila sich etwa um Gennaro gekümmert, als sie Stefano verlassen hatte, als sie den Jungen wegen ihrer Arbeit in der Fabrik zur Nachbarin gebracht und als sie ihn zu mir geschickt hatte, als ob sie ihn loswerden wollte? Ja doch, ich hatte meine Fehler, aber ich war unzweifelhaft eine bessere Mutter als sie.
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Die Geschichte des verlorenen Kindes
Band 4 der Neapolitanischen Saga
Olga ist achtunddreißig und verheiratet, sie hat zwei Kinder, eine schöne Wohnung in Turin und ein Leben, das solide auf familiären Gewissheiten und kleinen Ritualen ruht. Seit fünfzehn Jahren führt sie eine glückliche Ehe. Zumindest denkt sie das. Bis ein einziger Satz alles zerstört. Der Mann, mit dem sie alt zu werden hoffte, ihr geliebter Mario, will nichts mehr von ihr wissen, er hat eine Andere, eine zwanzig Jahre Jüngere. Alleingelassen mit den Kindern und dem Hund, fällt Olga in einen dunklen Abgrund, dessen Existenz sie vorher nicht einmal hat erahnen können.
Was geht in einer Frau vor, die plötzlich vor den Trümmern ihrer Ehe steht? Einer Frau, die sich immer für ausgeglichen, stark und selbstbewusst gehalten hat? Elena Ferrante erzählt uns eine ganz alltägliche Geschichte als wortgewaltige Tragödie – davon, wie es ist, bei glasklarem Verstand in den Wahnsinn abzurutschen.
An einem Nachmittag im April verkündete mir mein Mann kurz nach dem Mittagessen, dass er mich verlassen wolle. Wir räumten gerade den Tisch ab, die Kinder zankten wie gewohnt im Zimmer nebenan, der Hund lag vor der Heizung und knurrte im Traum. Er sagte, er sei verwirrt, er fühle sich manchmal furchtbar müde und unzufrieden, vielleicht auch gemein. Er sprach ausführlich über unsere fünfzehn Ehejahre und die Kinder und gab zu, dass er weder ihnen noch mir das Geringste vorzuwerfen hatte. Er wirkte beherrscht wie immer, abgesehen von der übertriebenen Geste seiner rechten Hand, als er mit kindischer Miene erklärte, zarte Stimmen, eine Art Flüstern trieben ihn woandershin. Dann übernahm er die volle Verantwortung für alles, zog behutsam die Wohnungstür hinter sich zu und ließ mich versteinert neben der Spüle zurück.
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Die ganze Nacht lag ich verzweifelt in dem breiten Ehebett und grübelte. Doch so gründlich ich die letzten Etappen unserer Beziehung auch überdachte, ich konnte keine richtigen Anzeichen einer Krise finden. Ich kannte ihn gut, ich wusste, dass er ein ruhiger Mensch war, der sein Zuhause und unsere Familienrituale brauchte. Wir konnten über alles reden, wir umarmten und küssten uns immer noch gern, und manchmal war er so witzig, dass ich Tränen lachte. Ich hielt es für ausgeschlossen, dass er wirklich gehen wollte. Als mir dann einfiel, dass er nicht einen der Gegenstände mitgenommen hatte, an denen er hing, und dass er sogar vergessen hatte, sich von den Kindern zu verabschieden, war ich sicher, dass es nichts Ernstes war. Er machte nur eine dieser schwierigen Phasen durch, wie im Roman, wenn eine Figur auf die ganz normale Unzufriedenheit völlig maßlos reagiert. Im Übrigen war ihm das schon einmal passiert: Die Gelegenheit und die Umstände fielen mir wieder ein, während ich mich im Bett hin und her wälzte. Viele Jahre zuvor, wir waren gerade sechs Monate zusammen, sagte er mir unmittelbar nach einem Kuss, er wolle mich nicht mehr wiedersehen. Ich war in ihn verliebt, mir gefror das Blut in den Adern, ihn so reden zu hören. Er ging fort und ich stand fröstelnd an der steinernen Brüstung unter dem Castel Sant’Elmo und betrachtete die farblose Stadt, das Meer. Fünf Tage später rief er mich verlegen an und rechtfertigte sich, er sagte, plötzlich habe ihn so ein Gefühl der Leere gepackt. DiesenAusdruck habe ich mir gemerkt, immer wieder wendete ich ihn in meinem Kopf hin und her.
Tage des Verlassenwerdens
Roman
Ein heißer Sommer an der süditalienischen Küste, Leda – knapp fünfzig, allein lebend, Mutter zweier erwachsener Töchter – verbringt unbeschwerte Tage am Strand. Sie vertreibt sich die Zeit damit, eine junge Mutter und deren kleines Mädchen zu beobachten, die innig vor sich hin spielen. Doch plötzlich verdüstert sich das Idyll und die sonst so beherrschte Leda lässt sich zu einer unbegreiflichen Tat hinreißen ...
Was bedeutet es, eine Frau und Mutter zu sein – und dabei eigene Wege gehen zu wollen? Mit frappierender Ehrlichkeit ergründet Elena Ferrante die widersprüchlichen Gefühle, die uns an unsere Kinder binden. Und zeigt uns die rätselhafte Schönheit und Brutalität dessen, was unser Leben ist.
Ich war noch keine Stunde unterwegs, als mein Zustand sich verschlechterte. Der Schmerz in der Seite meldete sich zurück, und eine Zeit lang versuchte ich, ihm keine Bedeutung beizumessen. Erst als mir klar wurde, dass ich nicht mehr genug Kraft hatte, das Lenkrad zu halten, begann ich mir ernstlich Sorgen zu machen.
Wenige Minuten später war mein Kopf bleischwer, die Scheinwerfer schienen mir immer blasser, und kurz darauf vergaß ich sogar, dass ich Auto fuhr. Stattdessen hatte ich das Gefühl, ich wäre am Meer, am helllichten Tag. Der Strand war leer, das Wasser ruhig, aber an einem Mast wenige Meter vom Ufer entfernt flatterte die rote Fahne.
Als ich klein war, bekam ich immer einen Schrecken, wenn meine Mutter mir einschärfte: Leda, du darfst niemals schwimmen gehen, wenn die rote Fahne weht. Dann ist das Meer sehr aufgebracht, und du kannst ertrinken. Diese Angst hielt sich über Jahre, und selbst jetzt, da das Wasser sich wie ein durchsichtiges Blatt Papier glatt bis zum Horizont erstreckte, war mir mulmig, und ich wagte nicht hineinzugehen. Ich sagte mir: Na los, geh schwimmen, bestimmt haben sie nur vergessen, die rote Fahne wieder herunterzuholen, blieb aber am Ufer stehen und steckte vorsichtig die Zehenspitzen ins Wasser. Von Zeit zu Zeit erschien meine Mutter oben in den Dünen und rief mir zu, als wäre ich immer noch ein kleines Mädchen: Leda, was machst du da, hast du die rote Fahne nicht gesehen?
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Frau im Dunkeln
Taschenbuch
Leda ist fast fünfzig, geschieden, sie unterrichtet Englisch an der Universität in Florenz. Die erwachsenen Töchter sind jetzt beim Vater in Kanada, und Leda muss sich eingestehen, dass sie statt der erwarteten Sehnsucht vor allem Erleichterung empfindet. Den heißen Sommer verbringt sie in einem süditalienischen Küstenort: Bücher, Sonne, das Meer, was könnte friedlicher sein? Am Strand macht sich neben ihr allerdings eine übermütig lärmende neapolitanische Großfamilie breit, darunter eine noch junge Mutter und deren kleine Tochter. Leda beobachtet die beiden über Tage, zunächst fasziniert, wohlwollend. Allmählich aber schlägt ihre Stimmung um, irgendwann folgt sie einem Impuls und tut dem kleinen Mädchen und der Familie etwas Unbegreifliches an. Und wird selber heimgesucht, von lange verdrängten Erinnerungen – an gravierende Entscheidungen, die sie zu treffen hatte, ganz zum Leidwesen ihrer eigenen Töchter ... Was bedeutet es, eine Frau und Mutter zu sein? Mit frappierender Ehrlichkeit ergründet Elena Ferrante die widersprüchlichen Gefühle, die uns an unsere Kinder binden.
Ich war noch keine Stunde unterwegs, als mein Zustand sich verschlechterte. Der Schmerz in der Seite meldete sich zurück, und eine Zeit lang versuchte ich, ihm keine Bedeutung beizumessen. Erst als mir klar wurde, dass ich nicht mehr genug Kraft hatte, das Lenkrad zu halten, begann ich mir ernstlich Sorgen zu machen.
Wenige Minuten später war mein Kopf bleischwer, die Scheinwerfer schienen mir immer blasser, und kurz darauf vergaß ich sogar, dass ich Auto fuhr. Stattdessen hatte ich das Gefühl, ich wäre am Meer, am helllichten Tag. Der Strand war leer, das Wasser ruhig, aber an einem Mast wenige Meter vom Ufer entfernt flatterte die rote Fahne.
Als ich klein war, bekam ich immer einen Schrecken, wenn meine Mutter mir einschärfte: Leda, du darfst niemals schwimmen gehen, wenn die rote Fahne weht. Dann ist das Meer sehr aufgebracht, und du kannst ertrinken. Diese Angst hielt sich über Jahre, und selbst jetzt, da das Wasser sich wie ein durchsichtiges Blatt Papier glatt bis zum Horizont erstreckte, war mir mulmig, und ich wagte nicht hineinzugehen. Ich sagte mir: Na los, geh schwimmen, bestimmt haben sie nur vergessen, die rote Fahne wieder herunterzuholen, blieb aber am Ufer stehen und steckte vorsichtig die Zehenspitzen ins Wasser. Von Zeit zu Zeit erschien meine Mutter oben in den Dünen und rief mir zu, als wäre ich immer noch ein kleines Mädchen: Leda, was machst du da, hast du die rote Fahne nicht gesehen?
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Frau im Dunkeln
Roman
»Frantumaglia «. Es ist Elena Ferrantes Mutter, eine Schneiderin, die ihrer Tochter dieses Wort hinterlässt – es stammt aus dem neapolitanischen Dialekt, aus der Welt der verknoteten Fäden und der aufgetrennten Nähte, ein Sinnbild für Unaussprechliches, Verwirrendes. Und ein Sinnbild eben auch für die Empfindungen und Ideen, die Elena Ferrantes Leben prägen – und über die sie sich hier Klarheit verschafft.
Die Weltautorin erzählt von ihrer neapolitanischen Herkunft, von ihrer Kindheit als ein unerschöpfliches Archiv aus Erinnerungen, Eindrücken, Fantasien, sie erläutert ihr Verhältnis zur Psychologie und zu Frauenfragen, sie diskutiert ihre Haltung zur Öffentlichkeit und spricht über heutige Bedenken und Begeisterungen.
Briefe, Aufsätze und Interviews aus über fünfundzwanzig Jahren verflechten sich zu dem lebhaften Selbstporträt einer außergewöhnlichen Autorin. Elena Ferrante beantwortet in den Frantumaglia die wichtigsten der Fragen ihrer Leserinnen und Leser, sie zeigt sich so offen wie nie zuvor – und bleibt uns doch faszinierend fremd.
Liebe Sandra,
bei dem letzten, sehr angenehmen Treffen mit Dir und Deinem Mann hast Du ironisch nachgefragt, was ich denn nun zu tun gedenke, um den Verkauf von Lästige Liebe zu fördern (an den endgültigen Titel des Buches muss ich mich erst noch gewöhnen), und mir dabei einen Deiner lebhaften, amüsierten Blicke zugeworfen. Zu einer spontanen Antwort fehlte mir der Mut, zumal ich auch dachte, Sandro gegenüber schon recht deutlich gewesen zu sein, er schien nichts dagegen zu haben. Deshalb hatte ich eigentlich gehofft, das Thema nicht mehr ansprechen zu müssen, auch nicht im Spaß. Ich antworte Dir nun schriftlich, denn damit ersparen wir uns meine langen Pausen, meine Unsicherheit, meine Nachgiebigkeit. Ich habe die Absicht, gar nichts für Lästige Liebe zu tun, nichts, was ein öffentliches Auftreten mit sich brächte. Ich habe bereits genug für diesen Roman getan: Ich habe ihn geschrieben. Wenn das Buch etwas taugt, sollte das reichen. Ich werde keine Einladung zu Diskussionen oder Tagungen annehmen. Ich werde zu keiner Preisverleihung gehen, falls man mir denn einen Preis zuerkennen sollte. Ich werde keine Werbung für das Buch machen, vor allem nicht im Fernsehen, weder in Italien noch im Ausland. Ich werde mich nur schriftlich zu Wort melden, aber auch das möglichst auf ein Minimum beschränken. Für mich und meine Familie steht dieser Entschluss unwiderruflich fest.
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Frantumaglia
Mein geschriebenes Leben
Dreimal ruft sie an, sie klingt überdreht und verstört, und eigentlich sollte sie im Zug nach Rom sitzen, unterwegs zu Delia, ihrer Tochter. Wenig später wird ihre halbnackte Leiche an Land gespült. Zur Beerdigung kehrt Delia nach Neapel zurück, in die erstickende, chaotische Heimatstadt, in ihre verhasste Vergangenheit. Und sie bleibt, denn sie muss die Wahrheit wissen: Warum starb ihre Mutter? Und welche Rolle spielt Caserta, ein ehemaliger Freund ihres gewalttätigen Vaters, der plötzlich wieder auftaucht? Er jedenfalls scheint der Letzte zu sein, der die Mutter lebend gesehen hat. Zunehmend verzweifelt läuft Delia durch die Gassen der Stadt und entwirrt Erinnerungen, die sie lange unterdrückt hatte. Noch ahnt sie nicht, wie schutzlos sie sein wird, gegen das schreckliche Geheimnis ihrer eigenen Kindheit …
Lästige Liebe ist ein psychologisches Meisterwerk von schwindelerregender Genauigkeit: eine Mutter-Tochtergeschichte über Liebe und Hass und den unlösbaren Knoten aus Lügen, Eifersucht und Gewalt, der die beiden – schicksalhaft – aneinander bindet.
Meine Mutter ertrank in der Nacht des 23. Mai, an meinem Geburtstag, im Meer vor einem Ort namens Spaccavento, wenige Kilometer von Minturno entfernt. In dieser Gegend hatten wir Ende der fünfziger Jahre, als mein Vater noch bei uns lebte, sommers ein Zimmer in einem Bauernhaus gemietet und schliefen den Juli über zu fünft auf nur wenigen, sehr heißen Quadratmetern. Jeden Morgen tranken wir Mädchen ein rohes Ei, nahmen auf sandigen Wegen eine Abkürzung durch hohes Schilf zum Meer und gingen schwimmen. In der Nacht als meine Mutter starb, klopfte es bei der Besitzerin des Hauses, die Rosa hieß und inzwischen über siebzig war, an die Tür, doch aus Angst vor Dieben und Mördern öffnete sie nicht.
Meine Mutter hatte zwei Tage zuvor, am 21. Mai, den Zug nach Rom genommen, war dort aber nicht angekommen. In letzter Zeit hatte sie mich mindestens einmal im Monat für jeweils ein paar Tage besucht. Ich hatte sie nicht gern in der Wohnung. Sie stand, wie sie es gewohnt war, im Morgengrauen auf und putzte Küche und Wohnzimmer von oben bis unten. Ich versuchte, wieder einzuschlafen, doch ohne Erfolg. Steif lag ich unter der Bettdecke und hatte das Gefühl, sie verwandelte meinen Körper mit ihrer Geschäftigkeit in den eines kleinen, runzligen Mädchens. Sobald sie mit dem Kaffee kam, rollte ich mich auf die Seite, um zu verhindern, dass sie mich berührte, wenn sie sich auf die Bettkante setzte. Ihre Geselligkeit ging mir auf die Nerven. Sie ging einkaufen und plauderte zwanglos mit den Händlern, mit denen ich in zehn Jahren höchstens ein paar Worte gewechselt hatte, schlenderte mit ihren Gelegenheitsbekanntschaften durch die Stadt, freundete sich mit meinen Freunden an und erzählte ihnen Geschichten aus ihrem Leben, immer dieselben. Ihr gegenüber konnte ich nur zurückhaltend und unsicher sein.
Beim ersten Anflug von Ungeduld meinerseits fuhr sie nach Neapel zurück. Sie packte ihre Sachen, gab der Wohnung einen letzten Schliff und versprach, bald wiederzukommen. Ich ging durch die Zimmer und ordnete alles, was sie nach ihrem Geschmack umgeräumt hatte, wieder nach meinem Geschmack. Ich stellte den Salzstreuer in das Fach, in dem ich ihn seit Jahren aufbewahrte, gab dem Waschmittel den Platz zurück, den ich seit jeher für den besten hielt, zerstörte ihre Ordnung in meinen Schubfächern, überließ mein Arbeitszimmer wieder dem Chaos. Auch der Geruch ihrer Anwesenheit – ein Duft, der Unruhe in die Wohnung gebracht hatte – verflog nach kurzer Zeit wie der Geruch eines Platzregens im Sommer.
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Lästige Liebe
Taschenbuch
Dreimal ruft sie an, sie klingt überdreht und verstört, und eigentlich sollte sie im Zug nach Rom sitzen, unterwegs zu Delia, ihrer Tochter. Wenig später wird ihre halbnackte Leiche an Land gespült. Zur Beerdigung kehrt Delia nach Neapel zurück, in die erstickende, chaotische Heimatstadt, in ihre verhasste Vergangenheit. Und sie bleibt, denn sie muss die Wahrheit wissen: Warum starb ihre Mutter? Und welche Rolle spielt Caserta, ein ehemaliger Freund ihres gewalttätigen Vaters, der plötzlich wieder auftaucht? Er jedenfalls scheint der Letzte zu sein, der die Mutter lebend gesehen hat. Zunehmend verzweifelt läuft Delia durch die Gassen der Stadt und entwirrt Erinnerungen, die sie lange unterdrückt hatte. Noch ahnt sie nicht, wie schutzlos sie sein wird, gegen das schreckliche Geheimnis ihrer eigenen Kindheit …
Lästige Liebe ist ein psychologisches Meisterwerk von schwindelerregender Genauigkeit: eine Mutter-Tochtergeschichte über Liebe und Hass und den unlösbaren Knoten aus Lügen, Eifersucht und Gewalt, der die beiden – schicksalhaft – aneinander bindet.
Meine Mutter ertrank in der Nacht des 23. Mai, an meinem Geburtstag, im Meer vor einem Ort namens Spaccavento, wenige Kilometer von Minturno entfernt. In dieser Gegend hatten wir Ende der fünfziger Jahre, als mein Vater noch bei uns lebte, sommers ein Zimmer in einem Bauernhaus gemietet und schliefen den Juli über zu fünft auf nur wenigen, sehr heißen Quadratmetern. Jeden Morgen tranken wir Mädchen ein rohes Ei, nahmen auf sandigen Wegen eine Abkürzung durch hohes Schilf zum Meer und gingen schwimmen. In der Nacht als meine Mutter starb, klopfte es bei der Besitzerin des Hauses, die Rosa hieß und inzwischen über siebzig war, an die Tür, doch aus Angst vor Dieben und Mördern öffnete sie nicht.
Meine Mutter hatte zwei Tage zuvor, am 21. Mai, den Zug nach Rom genommen, war dort aber nicht angekommen. In letzter Zeit hatte sie mich mindestens einmal im Monat für jeweils ein paar Tage besucht. Ich hatte sie nicht gern in der Wohnung. Sie stand, wie sie es gewohnt war, im Morgengrauen auf und putzte Küche und Wohnzimmer von oben bis unten. Ich versuchte, wieder einzuschlafen, doch ohne Erfolg. Steif lag ich unter der Bettdecke und hatte das Gefühl, sie verwandelte meinen Körper mit ihrer Geschäftigkeit in den eines kleinen, runzligen Mädchens. Sobald sie mit dem Kaffee kam, rollte ich mich auf die Seite, um zu verhindern, dass sie mich berührte, wenn sie sich auf die Bettkante setzte. Ihre Geselligkeit ging mir auf die Nerven. Sie ging einkaufen und plauderte zwanglos mit den Händlern, mit denen ich in zehn Jahren höchstens ein paar Worte gewechselt hatte, schlenderte mit ihren Gelegenheitsbekanntschaften durch die Stadt, freundete sich mit meinen Freunden an und erzählte ihnen Geschichten aus ihrem Leben, immer dieselben. Ihr gegenüber konnte ich nur zurückhaltend und unsicher sein.
Beim ersten Anflug von Ungeduld meinerseits fuhr sie nach Neapel zurück. Sie packte ihre Sachen, gab der Wohnung einen letzten Schliff und versprach, bald wiederzukommen. Ich ging durch die Zimmer und ordnete alles, was sie nach ihrem Geschmack umgeräumt hatte, wieder nach meinem Geschmack. Ich stellte den Salzstreuer in das Fach, in dem ich ihn seit Jahren aufbewahrte, gab dem Waschmittel den Platz zurück, den ich seit jeher für den besten hielt, zerstörte ihre Ordnung in meinen Schubfächern, überließ mein Arbeitszimmer wieder dem Chaos. Auch der Geruch ihrer Anwesenheit – ein Duft, der Unruhe in die Wohnung gebracht hatte – verflog nach kurzer Zeit wie der Geruch eines Platzregens im Sommer.
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Lästige Liebe
Roman
Allein am Strand zurückgelassen und ganz auf sich gestellt – die Puppe Celina durchlebt eine schreckliche Nacht. Der schäbige Strandwärter versucht, ihr die Worte zu rauben und sie mit seinem großen Rechen aufzukehren wie Müll, das Feuer will sie verbrennen, und das Meer erhört keines ihrer Gebete. Aber Schlimmste ist: Ihre Puppenmutter, das kleine Mädchen Mati, hat sie vergessen, denn Mati hat jetzt ein kleines Kätzchen zur Spielgefährtin. Ein Unglück folgt aufs Nächste, bis die Nacht sich in einen Tag verwandelt, und als die Sonne aufgeht, sieht Celina plötzlich alles ein wenig klarer.
Der Strand bei Nacht ist die rätselhafte, berührende, überraschende Geschichte einer Puppe mit zerbrechlicher Seele und allzu menschlichen Gefühlen. Elena Ferrantes unverwechselbare Verlebendigungskunst und Mara Cerris traumähnliche Bilder fügen sich zu einem eindringlichen Leseerlebnis für kleine und große Ferrante-Fans.
Mati ist ein kleines Mädchen, sie ist fünf Jahre alt und spricht sehr viel, vor allem mit mir. Ich bin ihre Puppe.
Gerade ist ihr Vater gekommen, er ist jedes Wochenende bei uns am Meer.
Er hat ihr ein Geschenk mitgebracht, ein schwarz-weißes Kätzchen. Darum spielt Mati seit fünf Minuten nicht mehr mit mir, sie spielt jetzt mit ihrem Kätzchen, sie nennt es Minù.
Ich liege im Sand, in der Sonne, und weiß nicht, was ich machen soll.
Matis Bruder gräbt ein Loch.
Er kann mich nicht leiden. Für ihn bin ich bloß ein kleiner Popel, er schippt den ganzen Sand auf mich.
Es ist sehr heiß.
Ich denke daran, wie Mati vorhin noch mit mir gespielt hat. Durch sie konnte ich hüpfen und laufen, konnte ich mich erschrecken, konnte ich sprechen und schreien, lachen und auch weinen.
Wenn wir spielen, plappere ich immer sehr viel, und alle Dinge antworten mir. Doch jetzt bin ich allein, halb eingebuddelt im Sand, und mir ist langweilig.
Ein Käfer kommt vorbei. Er ist so damit beschäftigt, sich einen Weg zu bahnen, dass er nicht mal Hallo sagt.
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Der Strand bei Nacht
Illustriert von Mara Cerri
Meine geniale Freundin, der erste Band der Neapolitanischen Saga wurde von HBO und RAI unter der Regie von Saverio Costanzo verfilmt. In acht Folgen widmet sich diese erste Staffel der Serie Kindheit und Jugend der beiden Freundinnen Elena und Lila. Die Serie ist auf DVD, BluRay und digital verfügbar.
Meine geniale Freundin
DVD der Serienverfilmung
Elena Ferrante hat ein literarisches Spiel gespielt. Sie hat sich ein Jahr lang, Woche für Woche, vom britischen Guardian eine Liste mit allen erdenklichen Themen schicken lassen, sie hat sich dann eines ausgesucht und spontan darüber geschrieben.
Zufällige Erfindungen versammelt die 52 erstaunlichen Kolumnen, die auf diese Weise entstanden sind: Es geht um erste Liebe, um Klimawandel, es geht darum, wie misslich es ist, fotografiert zu werden, was es bedeutet, wenn die eigenen Bücher verfilmt werden, es geht um die Frage, warum man Partys eigentlich immer als Letzte verlässt – und ob es eine Formel für Lebensglück gibt.
Elena Ferrante ist »eine der größten Romanschriftstellerinnen unserer Zeit« (New York Times), und sie beherrscht auch die kurzen Formen meisterhaft. Zufällige Erfindungen, das sind suggestive Stücke voller Witz, Hintersinn und beiläufiger Erleuchtungen – wunderbar illustriert von Andrea Ucini.
Im Herbst 2017 schlug mir der Guardian vor, eine wöchentliche Kolumne zu schreiben. Ich war geschmeichelt und ängstlich zugleich. Mit so etwas hatte ich keine Erfahrung, und ich fürchtete, es nicht zu können. Nach langem Zögern teilte ich der Redaktion mit, dass ich den Vorschlag annehmen würde, wenn man mir eine Reihe von Fragen schickte, auf die ich jeweils mit der gebotenen Kürze antworten wollte. Meiner Bitte wurde sofort entsprochen, und wir vereinbarten, dass die Kolumne nach spätestens einem Jahr beendet werden sollte.
Nach und nach verging das Jahr, und es war lehrreich für mich. Ich hatte mich noch nie in die Situation gebracht, zum Schreiben verpflichtet zu sein, auf einen unabänderlichen Umfang beschränkt und auf Themen, die auf meinen Wunschhin von den äußerst geduldigen Redakteuren ausgewählt worden waren. Ich bin es gewohnt, mir selbst eine Geschichte, Figuren, ein Thema zu suchen und dabei fast immer mühsam ein Wort ans andere zu reihen und vieles wieder zu streichen.
Und was ich am Ende finde – vorausgesetzt, ich finde überhaupt etwas –, überrascht vor allem mich selbst. Es ist, als erzeugte ein Satz den nächsten, indem er sich meine noch unsicheren Absichten zunutze macht, und ich weiß nie, ob das Ergebnis gut ist. Doch wenn es da ist, muss daran gefeilt werden, es ist der Moment, in dem der Text die von mir gewünschte Form erhält. Aber bei der Arbeit für den Guardian überwog die zufällige Kollision des redaktionell vorgegebenen Themas mit der Eile des Schreibens.
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Zufällige Erfindungen
Illustriert von Andrea Ucini
Elena Ferrantes Neapolitanische Saga wird von HBO und RAI unter dem Titel Meine geniale Freundin verfilmt. Die zweite Staffel der Serie orientiert sich am zweiten Band der Neapel-Tetralogie und trägt deshalb den Untertitel Die Geschichte eines neuen Namens. Die Serie ist auf DVD, BluRay und digital verfügbar.
Die Geschichte eines neuen Namens
DVD der Serienverfilmung
»Frantumaglia«. Es ist Elena Ferrantes Mutter, eine Schneiderin, die ihrer Tochter dieses Wort hinterlässt – es stammt aus dem neapolitanischen Dialekt, aus der Welt der verknoteten Fäden und der aufgetrennten Nähte, ein Sinnbild für Unaussprechliches, Verwirrendes. Und ein Sinnbild eben auch für die Empfindungen und Ideen, die Elena Ferrantes Leben prägen – und über die sie sich hier Klarheit verschafft.
Die Weltautorin erzählt von ihrer neapolitanischen Herkunft, von ihrer Kindheit als ein unerschöpfliches Archiv aus Erinnerungen, Eindrücken, Fantasien, sie erläutert ihr Verhältnis zur Psychologie und zu Frauenfragen, sie diskutiert ihre Haltung zur Öffentlichkeit und spricht über heutige Bedenken und Begeisterungen.
Briefe, Aufsätze und Interviews aus über fünfundzwanzig Jahren verflechten sich zu dem lebhaften Selbstporträt einer außergewöhnlichen Autorin. Elena Ferrante beantwortet in den Frantumaglia die wichtigsten der Fragen ihrer Leserinnen und Leser, sie zeigt sich so offen wie nie zuvor – und bleibt uns doch faszinierend fremd.
Liebe Sandra,
bei dem letzten, sehr angenehmen Treffen mit Dir und Deinem Mann hast Du ironisch nachgefragt, was ich denn nun zu tun gedenke, um den Verkauf von Lästige Liebe zu fördern (an den endgültigen Titel des Buches muss ich mich erst noch gewöhnen), und mir dabei einen Deiner lebhaften, amüsierten Blicke zugeworfen. Zu einer spontanen Antwort fehlte mir der Mut, zumal ich auch dachte, Sandro gegenüber schon recht deutlich gewesen zu sein, er schien nichts dagegen zu haben. Deshalb hatte ich eigentlich gehofft, das Thema nicht mehr ansprechen zu müssen, auch nicht im Spaß. Ich antworte Dir nun schriftlich, denn damit ersparen wir uns meine langen Pausen, meine Unsicherheit, meine Nachgiebigkeit. Ich habe die Absicht, gar nichts für Lästige Liebe zu tun, nichts, was ein öffentliches Auftreten mit sich brächte. Ich habe bereits genug für diesen Roman getan: Ich habe ihn geschrieben. Wenn das Buch etwas taugt, sollte das reichen. Ich werde keine Einladung zu Diskussionen oder Tagungen annehmen. Ich werde zu keiner Preisverleihung gehen, falls man mir denn einen Preis zuerkennen sollte. Ich werde keine Werbung für das Buch machen, vor allem nicht im Fernsehen, weder in Italien noch im Ausland. Ich werde mich nur schriftlich zu Wort melden, aber auch das möglichst auf ein Minimum beschränken. Für mich und meine Familie steht dieser Entschluss unwiderruflich fest.
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Frantumaglia
Taschenbuch
Neapel in den Neunzigern, Giovanna ist dreizehn Jahre alt, die Vorzeigetochter kultivierter Mittelschichtseltern, eine strebsame Schülerin. Doch plötzlich verändert sich alles, ihr Körper, ihre Stimmung, die Noten brechen ein, und immer öfter gerät sie mit ihren Eltern aneinander. Zufällig kommt Giovanna der Vorgeschichte ihres Vaters auf die Spur, der aus einem ganz anderen Neapel stammt, einem leidenschaftlichen, vulgären Neapel. Dort treibt sie sich herum, aber die Geheimnisse, auf die sie da stößt, verstören sie. Und als sie bei einem Abendessen bemerkt, wie ein Freund der Familie unterm Esstisch zärtlich die Füße ihrer Mutter streift, verliert sie vollends die Fassung. Denn wem kann sie überhaupt noch trauen? Und was soll ihr Halt geben? Oder ist sie selber bereits unrettbar verwoben in dieses lügenhafte Leben der Erwachsenen?
Elena Ferrante hat ein Bravourstück geschaffen und einen traurigen und schönen Roman geschrieben: über die Heucheleien der Eltern, die Atemlosigkeiten und Verwirrungen der Jugendzeit und über das Drama des Erwachsenwerdens. Darüber, wie es ist, ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden.
Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. Alles – Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblieben. Ich dagegen bin weggeglitten und gleite auch jetzt noch weg, in diese Zeilen hinein, die mir eine Geschichte geben wollen, während sie eigentlich nichts sind, nichts von mir, nichts, was wirklich begonnen oder wirklich einen Abschluss gefunden hätte: nichts als ein Knäuel, von dem niemand weiß, nicht einmal, wer dies hier gerade schreibt, ob es den passenden Faden einer Erzählung enthält oder nur ein verworrener Schmerz ohne Erlösung ist.
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Oder lieber ins Buch hineinhören (der Hörverlag) ?
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Roman
Olga ist achtunddreißig und verheiratet, sie hat zwei Kinder, eine schöne Wohnung in Turin und ein Leben, das solide auf familiären Gewissheiten und kleinen Ritualen ruht. Seit fünfzehn Jahren führt sie eine glückliche Ehe. Zumindest denkt sie das. Bis ein einziger Satz alles zerstört. Der Mann, mit dem sie alt zu werden hoffte, ihr geliebter Mario, will nichts mehr von ihr wissen, er hat eine Andere, eine zwanzig Jahre Jüngere. Alleingelassen mit den Kindern und dem Hund, fällt Olga in einen dunklen Abgrund, dessen Existenz sie vorher nicht einmal hat erahnen können.
Was geht in einer Frau vor, die plötzlich vor den Trümmern ihrer Ehe steht? Einer Frau, die sich immer für ausgeglichen, stark und selbstbewusst gehalten hat? Elena Ferrante erzählt uns eine ganz alltägliche Geschichte als wortgewaltige Tragödie – davon, wie es ist, bei glasklarem Verstand in den Wahnsinn abzurutschen.
An einem Nachmittag im April verkündete mir mein Mann kurz nach dem Mittagessen, dass er mich verlassen wolle. Wir räumten gerade den Tisch ab, die Kinder zankten wie gewohnt im Zimmer nebenan, der Hund lag vor der Heizung und knurrte im Traum. Er sagte, er sei verwirrt, er fühle sich manchmal furchtbar müde und unzufrieden, vielleicht auch gemein. Er sprach ausführlich über unsere fünfzehn Ehejahre und die Kinder und gab zu, dass er weder ihnen noch mir das Geringste vorzuwerfen hatte. Er wirkte beherrscht wie immer, abgesehen von der übertriebenen Geste seiner rechten Hand, als er mit kindischer Miene erklärte, zarte Stimmen, eine Art Flüstern trieben ihn woandershin. Dann übernahm er die volle Verantwortung für alles, zog behutsam die Wohnungstür hinter sich zu und ließ mich versteinert neben der Spüle zurück.
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Die ganze Nacht lag ich verzweifelt in dem breiten Ehebett und grübelte. Doch so gründlich ich die letzten Etappen unserer Beziehung auch überdachte, ich konnte keine richtigen Anzeichen einer Krise finden. Ich kannte ihn gut, ich wusste, dass er ein ruhiger Mensch war, der sein Zuhause und unsere Familienrituale brauchte. Wir konnten über alles reden, wir umarmten und küssten uns immer noch gern, und manchmal war er so witzig, dass ich Tränen lachte. Ich hielt es für ausgeschlossen, dass er wirklich gehen wollte. Als mir dann einfiel, dass er nicht einen der Gegenstände mitgenommen hatte, an denen er hing, und dass er sogar vergessen hatte, sich von den Kindern zu verabschieden, war ich sicher, dass es nichts Ernstes war. Er machte nur eine dieser schwierigen Phasen durch, wie im Roman, wenn eine Figur auf die ganz normale Unzufriedenheit völlig maßlos reagiert. Im Übrigen war ihm das schon einmal passiert: Die Gelegenheit und die Umstände fielen mir wieder ein, während ich mich im Bett hin und her wälzte. Viele Jahre zuvor, wir waren gerade sechs Monate zusammen, sagte er mir unmittelbar nach einem Kuss, er wolle mich nicht mehr wiedersehen. Ich war in ihn verliebt, mir gefror das Blut in den Adern, ihn so reden zu hören. Er ging fort und ich stand fröstelnd an der steinernen Brüstung unter dem Castel Sant’Elmo und betrachtete die farblose Stadt, das Meer. Fünf Tage später rief er mich verlegen an und rechtfertigte sich, er sagte, plötzlich habe ihn so ein Gefühl der Leere gepackt. DiesenAusdruck habe ich mir gemerkt, immer wieder wendete ich ihn in meinem Kopf hin und her.
Tage des Verlassenwerdens
Taschenbuch
Wo Sie die Produktion des Bayerischen Rundfunks hören können, das erfahren Sie hier.
Werfen Sie einen Blick auf die Taschenbuch-Ausgabe von Elena Ferrantes »sprachlich radikalstem Roman«.
Die Verfilmung der Bestseller-Romane geht nun in eine neue Staffel.
Neapel in den Neunzigern, Giovanna ist dreizehn Jahre alt, die Vorzeigetochter kultivierter Mittelschichtseltern, eine strebsame Schülerin. Doch plötzlich verändert sich alles, ihr Körper, ihre Stimmung, die Noten brechen ein, und immer öfter gerät sie mit ihren Eltern aneinander. Zufällig kommt Giovanna der Vorgeschichte ihres Vaters auf die Spur, der aus einem ganz anderen Neapel stammt, einem leidenschaftlichen, vulgären Neapel. Dort treibt sie sich herum, aber die Geheimnisse, auf die sie da stößt, verstören sie. Und als sie bei einem Abendessen bemerkt, wie ein Freund der Familie unterm Esstisch zärtlich die Füße ihrer Mutter streift, verliert sie vollends die Fassung. Denn wem kann sie überhaupt noch trauen? Und was soll ihr Halt geben? Oder ist sie selber bereits unrettbar verwoben in dieses lügenhafte Leben der Erwachsenen?
Elena Ferrante hat ein Bravourstück geschaffen und einen traurigen und schönen Roman geschrieben: über die Heucheleien der Eltern, die Atemlosigkeiten und Verwirrungen der Jugendzeit und über das Drama des Erwachsenwerdens. Darüber, wie es ist, ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden.
Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. Alles – Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblieben. Ich dagegen bin weggeglitten und gleite auch jetzt noch weg, in diese Zeilen hinein, die mir eine Geschichte geben wollen, während sie eigentlich nichts sind, nichts von mir, nichts, was wirklich begonnen oder wirklich einen Abschluss gefunden hätte: nichts als ein Knäuel, von dem niemand weiß, nicht einmal, wer dies hier gerade schreibt, ob es den passenden Faden einer Erzählung enthält oder nur ein verworrener Schmerz ohne Erlösung ist.
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Oder lieber ins Buch hineinhören (der Hörverlag) ?
In einem volkstümlichen Viertel Neapels wachsen sie auf, derbes Fluchen auf den Straßen, Familien, die sich seit Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk artet in eine Schießerei aus. Hier gehen sie gemeinsam in die Schule, die unangepasste, draufgängerische Lila und die schüchterne, beflissene Elena, beide darum wetteifernd, besser zu sein als die andere. Bis Lilas Vater sein brillantes Kind zwingt, in der Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem bohrenden Verdacht zurückbleibt, das Leben zu leben, das eigentlich ihrer besten, ihrer so unberechenbaren Freundin zugestanden hätte.
Heute Morgen hat mich Rino angerufen, ich dachte, er wollte wieder einmal Geld, und wappnete mich, es ihm zu verweigern. Doch der Grund seines Anrufs war ein anderer.
Seine Mutter war unauffindbar.
»Seit wann?«
»Seit zwei Wochen.«
»Und da rufst du mich erst jetzt an?«
Mein Tonfall muss ihm feindselig vorgekommen sein, obwohl ich weder verärgert noch aufgebracht war, es lag nur eine Spur von Sarkasmus in meiner Stimme. Er, versuchte dagegenzuhalten, tat es jedoch unbeholfen, verlegen, halb im Dialekt, halb auf Italienisch. Er sagte, er sei fest davon überzeugt, dass seine Mutter irgendwo in Neapel herumstreife, wie immer.
»Auch nachts?«
»Du weißt doch, wie sie ist.«
»Ich weiß es, aber findest du zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen normal?«
»Ja. Du hast sie lange nicht gesehen, ihr Zustand hat sich verschlechtert. Sie schläft überhaupt nicht mehr, kommt, geht, macht, was sie will.«
Immerhin war er am Ende doch besorgt. Er hatte überall herumgefragt, hatte die Runde durch die Krankenhäuser gemacht und sich sogar an die Polizei gewandt. Nichts, seine Mutter war nirgends zu finden. Was für ein reizender Sohn: ein dicker Kerl um die vierzig, der noch nie in seinem Leben gearbeitet hat, immer nur krumme Geschäfte und ein Leben auf großem Fuß. Ich konnte mir denken, mit welcher Gründlichkeit er seine Nachforschungen angestellt hatte. Mit keiner. Er hatte nichts im Kopf, und am Herzen lag ihm nur er selbst.
»Sie ist nicht zufällig bei dir?«, fragte er mich unvermittelt.
Seine Mutter? Hier in Turin? Er wusste genau, wie die Dinge lagen, und redete nur, um irgendwas zu sagen. Er, ja, er war viel unterwegs, mindestens ein Dutzend Mal ist er schon uneingeladen bei mir aufgetaucht. Aber seine Mutter, die ich gern willkommen geheißen hätte, war zeit ihres Lebens nicht aus Neapel herausgekommen. Ich antwortete:
»Nein, zufällig nicht.«
»Bist du sicher?«
»Rino, also bitte: Ich habe gesagt, sie ist nicht hier.«
»Und wo ist sie dann?«
Er brach in Tränen aus, und ich ließ ihm seinen Auftritt, verzweifelte Schluchzer, die unecht begannen und echt weitergingen. Als er fertig war, sagte ich:
»Benimm dich bitte endlich mal, wie sie es gern hätte: Lass sie in Ruhe.«
»Was redest du denn da?«
»Ich meine es ernst. Es hat keinen Zweck. Lerne, auf eigenen Füßen zu stehen, und lass auch mich in Ruhe.«
Ich legte auf.
2
Rinos Mutter heißt Raffaella Cerullo, wurde aber von allen schon immer Lina gerufen. Von mir nicht, ich habe sie nie so genannt. Für mich ist sie seit mehr als sechzig Jahren Lila. Wenn ich plötzlich Lina oder Raffaella zu ihr sagte, würde sie denken, mit unserer Freundschaft wäre es vorbei.
Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte, und nur ich weiß, was sie damit meint. Sie hat nie eine Flucht im Sinn gehabt, einen Identitätswechsel, den Traum, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Sie hat auch nie an Selbstmord gedacht, ist ihr doch die Vorstellung zuwider, Rino könnte mit ihrem toten Körper zu tun haben und müsste sich um ihn kümmern. Nein, ihr schwebte etwas anderes vor: Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein. Und da ich sie gut kenne oder zumindest glaube, sie zu kennen, bin ich fest davon überzeugt, dass sie einen Weg gefunden hat, nicht einmal ein Haar auf dieser Welt zurückzulassen, nirgendwo.
3
Die Tage vergingen. Ich sah meine E-Mails durch, auch meine Papierpost, aber ohne viel Hoffnung. Ich hatte ihr oft geschrieben, sie hatte mir fast nie geantwortet. So ist es immer gewesen. Sie zog das Telefon vor oder die langen
nächtlichen Gespräche, wenn ich in Neapel war.
Ich öffnete meine Schubladen und die Blechschachteln, in denen ich alles Mögliche aufbewahre. Nur Weniges. Vieles hatte ich weggeworfen, vornehmlich Dinge, die mit ihr zu tun hatten, sie weiß das. Ich stellte fest, dass ich rein gar nichts von ihr habe, nicht ein Bild, nicht einen Zettel, nicht das kleinste Geschenk. Ich wunderte mich über mich selbst. War es möglich, dass sie mir in all den Jahren nichts von sich gegeben hatte oder, schlimmer noch, dass ich nicht das Geringste von ihr hatte aufbewahren wollen? Möglich.
Diesmal rief ich Rino an, allerdings widerstrebend. Er antwortete weder auf dem Festnetz noch auf dem Handy. Erst am Abend rief er zurück, er hatte die Ruhe weg. Er schlug den Ton an, mit dem er gern Schuldgefühle auslöst.
»Du hast angerufen, wie ich sehe. Hast du Neuigkeiten?«
»Nein. Du?«
»Nein.«
Er redete wirres Zeug. Wollte sich ans Fernsehen wenden, an eine »Bitte melde dich«-Sendung, einen Aufruf starten, seine Mutter für alles um Verzeihung bitten, sie anflehen, nach Hause zu kommen.
Ich hörte ihm geduldig zu, dann fragte ich:
»Hast du mal einen Blick in ihren Schrank geworfen?«
»Wozu denn?«
Das Naheliegendste war ihm natürlich nicht eingefallen.
»Sieh nach.«
Er ging zum Schrank und entdeckte, dass nichts darin war, kein einziges Kleid seiner Mutter, weder für den Sommer noch für den Winter, nichts als alte Kleiderbügel. Ich schickte ihn auf eine Suchaktion durch die Wohnung. Ihre Schuhe, weg. Die wenigen Bücher, weg. Sämtliche Fotos, weg. Die Filme, weg. Ihr Rechner, weg, und auch die alten Disketten, die man früher benutzte, einfach alles; alles, was mit ihrer Tüftelei eines Computerfans zu tun hatte, der schon Ende der sechziger Jahre, noch in der Lochstreifen-Ära, mit Rechenmaschinen herumexperimentiert hatte. Rino staunte. Ich sagte:
»Lass dir so viel Zeit, wie du willst, doch dann ruf mich an und sag mir, ob du auch nur eine Stecknadel gefunden hast, die ihr gehört.«
Er meldete sich am nächsten Tag, in höchster Aufregung.
»Da ist nichts!«
»Gar nichts?«
»Nein! Sie hat sich aus allen Fotos herausgeschnitten, auf denen wir gemeinsam waren, auch aus denen meiner Kindheit.«
»Hast du auch wirklich gründlich nachgesehen?«
»Überall.«
»Auch im Keller?«
»Ich sag’ doch, überall. Sogar der Karton mit den alten Papieren ist verschwunden, mit, was weiß ich,Geburtsurkunden, Telefonverträgen, Quittungen. Was hat das zu bedeuten? Waren das Einbrecher? Und was haben die gesucht? Was wollen die von mir und meiner Mutter?«
Ich beruhigte ihn, riet ihm, sich nicht aufzuregen. Es sei unwahrscheinlich, dass jemand ausgerechnet von ihm etwas wolle.
»Kann ich eine Weile bei dir wohnen?«
»Ausgeschlossen.«
»Bitte, ich kann nicht schlafen.«
»Du musst allein klarkommen, Rino, ich kann da auch
nichts machen.«
Ich legte auf, und als er wieder anrief, reagierte ich nicht. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch.
Lila will wie immer zu weit gehen, dachte ich.
Sie übertrieb die Sache mit den Spuren maßlos. Sie wollte nicht nur verschwinden, jetzt, mit sechsundsechzig Jahren, sondern auch das ganze Leben auslöschen, das hinter ihr lag.
Ich war unglaublich wütend.
Mal sehen, wer diesmal das letzte Wort behält, sagte ich mir. Ich schaltete den Computer ein und begann unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist.
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Oder lieber ins Buch hineinhören (der Hörverlag) ?
Lila und Elena sind jung, und sie sind verzweifelt. Lila hat am Tage ihrer Hochzeit erfahren, dass ihr Mann sie hintergeht – er macht Geschäfte mit verhassten Camorristi. Arm geboren und durch die Ehe schlagartig zu Geld und Ansehen gekommen, brechen für Lila leidvolle Zeiten an. Elena hingegen verliebt sich Hals über Kopf in einen jungen Studenten, doch der scheint nur mit ihren Gefühlen zu spielen. Sie ist eine regelrechte Vorzeigeschülerin geworden, muss aber feststellen, dass das, was sie sich mühsam erarbeitet hat, in ihrer neapolitanischen Welt kaum etwas gilt. Halt finden die beiden Frauen einzig in ihrer Freundschaft, ihre Liebe füreinander wirkt grenzenlos. Wären sie nur beide nicht immer wieder von dem brennenden Verlangen getrieben, die andere auszustechen.
Im Frühling 1966 vertraute Lila mir in höchster Aufregung eine Blechschachtel mit acht Schreibheften an. Sie sagte, sie könne sie nicht länger zu Hause behalten, sie fürchte, ihr Mann könnte sie lesen. Ich nahm die Schachtel kommentarlos an mich, abgesehen von einer ironischen Bemerkung über die Unmengen von Schnur, mit der sie sie umwickelt hatte. Zu jener Zeit stand es denkbar schlecht um unsere Freundschaft, doch offenbar sah nur ich das so. Die seltenen Male, die wir uns trafen, zeigte sie keinerlei Verlegenheit, war herzlich zu mir und verlor nicht ein feindseliges Wort.
Als sie mich bat, zu schwören, dass ich die Schachtel unter keinen Umständen öffnen würde, schwor ich es. Aber kaum saß ich im Zug, löste ich die Schnur, nahm die Hefte heraus und begann zu lesen. Das waren keine Tagebücher, obwohl detaillierte Schilderungen von Ereignissen aus Lilas Leben seit dem Abschluss der Grundschule darin enthalten waren. Sie waren eher das Zeugnis einer hartnäckigen Selbstdisziplin im Schreiben. Es gab Beschreibungen im Überfluss: vom Ast eines Baumes, von den Teichen, von einem Stein, von einem Laubblatt mit weißer Äderung,von Kochtöpfen, von den verschiedenen Teilen eines Espressokännchens, von einem Kohlenbecken, von Kohle und Holzkohle, es gab eine punktgenaue Zeichnung unseres Hofes und die Beschreibung unserer Straße – des Stradone – sowie des rostigen Eisenskeletts hinter den Teichen, unseres kleinen Parks und der Kirche, des Abholzens der Bäume hinter der Eisenbahn, der Neubauten, der Wohnung ihrer Eltern, des Werkzeugs, mit dem ihr Vater und ihr Bruder Schuhe reparierten, ihrer Handgriffe bei der Arbeit und vor allem von Farben, der Farben sämtlicher Dinge zu verschiedenen Tageszeiten. Doch es gab nicht nur beschreibende Passagen. Auch einzelne Wörter im Dialekt und in der Hochsprache tauchten auf, manchmal eingekreist, ohne Kommentar. Und Übersetzungsübungen auf Latein und Griechisch. Und ganze Abschnitte auf Englisch über die Läden unseres Viertels – des Rione –, über die Waren, über den Karren voller Obst und Gemüse, mit dem Enzo Scanno täglich von Straße zu Straße zog, wobei er den Esel am Halfter führte. Und unzählige Gedanken zu den Büchern, die sie gelesen hatte, zu den Filmen, die sie im Gemeindekino gesehen hatte. Und viele Ansichten,die sie in den Diskussionen mit Pasquale und in den Gesprächen mit mir vertreten hatte. Zwar gab es keine kontinuierliche Abfolge, doch egal, was Lila schriftlich einfing, alles bekam Format, so dass sich selbst auf den Seiten, die sie mit elf oder zwölf Jahren geschrieben hatte, nicht eine kindisch klingende Zeile fand.
Ihre Sätze waren äußerst präzise, die Zeichensetzung akkurat und alles in der Schönschrift gehalten, die Maestra Oliviero uns gelehrt hatte. Nur manchmal schien Lila die Ordnung, die sie sich auferlegt hatte, nicht einhalten zu können, als hätte eine Droge ihre Adern überschwemmt. Dann wurde alles atemlos, ihre Sätze überschlugen sich, die Zeichensetzung verschwand. Meistens brauchte sie nicht lange, um zu einem entspannten, klaren Ton zurückzufinden. Aber manchmal brach sie jäh ab und füllte den Rest der Seite mit kleinen Zeichnungen krummer Bäume, buckliger, rauchender Berge und verzerrter Gesichter. Sowohl ihre Ordnung als auch ihre Unordnung beeindruckten mich, und je mehr ich las, umso mehr fühlte ich mich getäuscht. Wie viel Übung steckte hinter dem Brief, den sie mir Jahre zuvor nach Ischia geschickt hatte: Deshalb war er so gut geschrieben! Ich stopfte alles in die Blechschachtel zurück und nahm mir vor, nicht weiter herumzuschnüffeln.
Doch schon bald wurde ich wieder schwach ...
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Elena und Lila sind inzwischen erwachsene Frauen. Lila hat einen Sohn bekommen und sich von allem befreit, von der Ehe, von ihrem neuen Namen, vom Wohlstand. Sie hat ihrem alten Viertel den Rücken gekehrt, arbeitet unter entwürdigenden Bedingungen in einer Wurstfabrik und befindet sich unversehens im Zentrum politischer Tumulte. Elena hat Neapel ganz verlassen, das Studium beendet und ihren ersten Roman veröffentlicht. Als sie in eine angesehene norditalienische Familie einheiratet und ihrerseits ein Kind bekommt, hält sie ihren gesellschaftlichen Aufstieg für vollendet. Doch schon bald muss sie feststellen, dass sie ständig an Grenzen gerät.
Das letzte Mal habe ich Lila vor fünf Jahren gesehen, im Winter 2005. Wir schlenderten früh am Morgen unsere Straße, den Stradone, entlang, und wie nun schon seit Jahren gelang es uns nicht, uns miteinander wohlzufühlen. Nur ich redete, das weiß ich noch. Sie sang vor sich hin, grüßte die Leute, die aber nicht zurückgrüßten, und die wenigen Male, da sie mich unterbrach, gab sie nur Ausrufe von sich, die keinen erkennbaren Zusammenhang mit dem hatten, was ich sagte. Im Laufe der Zeit war zu viel Schlimmes, teils auch Entsetzliches, geschehen, und um wieder Vertrauen fassen zu können, hätten wir uns verschwiegene Gedanken erzählen müssen, aber mir fehlte die Kraft, um sie zu formulieren, und Lila, die diese Kraft vielleicht besaß, hatte keine Lust dazu, sah keinen Sinn darin.
Ich hatte sie jedenfalls sehr gern, und immer wenn ich nach Neapel kam, wollte ich mich mit ihr treffen, auch wenn ich zugegebenermaßen etwas Angst davor hatte. Sie hatte sich sehr verändert. Das Alter hatte uns beide besiegt, aber während ich nun gegen einen Hang zum Übergewicht ankämpfte, war sie nach wie vor nur Haut und Knochen. Sie hatte kurzes Haar, das sie sich selbst schnitt, schlohweiß nicht weil sie sich bewusst dafür entschieden hätte, sondern aus Nachlässigkeit. Ihr stark gezeichnetes Gesicht erinnerte immer mehr an das ihres Vaters. Sie lachte überdreht, fast kreischend, und sprach zu laut. Sie gestikulierte in einem fort, mit einer so wilden Entschlossenheit, dass es aussah, als wollte sie die
Wohnblocks zerhacken, die Straße, die Passanten, mich.
Wir waren auf der Höhe unserer Grundschule, als uns ein junger Mann, den ich nicht kannte, atemlos überholte und Lila zurief, man habe in den Grünanlagen neben der Kirche eine Frauenleiche gefunden. Wir liefen zu dem kleinen Park, und sich grob den Weg bahnend zog Lila mich in die Ansammlung von Schaulustigen hinein. Die Frau lag auf der Seite, war außerordentlich dick und trug einen unmodernen, dunkelgrünen Regenmantel. Lila erkannte sie sofort, ich nicht. Es war unsere Freundin aus Kindertagen Gigliola Spagnuolo, Michele Solaras Exfrau.
Ich hatte sie jahrzehntelang nicht gesehen. Ihr schönes Gesicht war entstellt, ihre Fußgelenke waren stark geschwollen. Die ehemals braunen Haare waren nun feuerrot und so lang, wie sie sie als junges Mädchen getragen hatte, jedoch dünn, auf der lockeren Erde ausgebreitet. Nur an einem Fuß trug sie einen flachen, stark abgenutzten Schuh; der andere Fuß steckte in einem grauen, am großen Zeh durchlöcherten Wollstrumpf, und der Schuh lag einen Meter weiter, als hätte sie ihn verloren, als sie nach einem Schmerz oder nach einem Schrecken getreten hatte. Ich brach in Tränen aus, Lila sah mich ärgerlich an.
Auf einer Bank in der Nähe warteten wir schweigend, bis man Gigliola wegbrachte. Was ihr passiert war, wie sie gestorben war, wusste man zunächst nicht. Wir gingen zu Lila, in die alte, kleine Wohnung ihrer Eltern, in der sie nun mit ihrem Sohn Rino lebte. Wir redeten über unsere Freundin, Lila sprach schlecht über sie, über das Leben, das sie geführt hatte, über ihre Anmaßungen, über ihre Gemeinheiten. Diesmal war ich es, die nicht zuhören konnte, ich musste an dieses zur Seite gedrehte Gesichtauf der Erde denken, daran, wie schütter das lange Haar gewesen war, an die Flecken weißlicher Kopfhaut. Wie viele Frauen, damals kleine Mädchen wie wir, lebten nun nicht mehr, waren von der Erde verschwunden, weil sie krank geworden waren, weil ihre Nerven dem Schleifpapier der Qualen nicht standgehalten hatten, weil ihr Blut vergossen worden war.Wir blieben eine kurze Weile in der Küche sitzen, ohne dass sich eine von uns dazu aufraffte, das Geschirr abzuräumen, dann gingen wir erneut aus dem Haus.
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Elena ist schließlich doch nach Neapel zurückgekehrt, aus Liebe. Die beste Entscheidung ihres ganzen Lebens, glaubt sie, doch als sich ihr nach und nach die ganze Wahrheit über den geliebten Mann offenbart, fällt sie ins Bodenlose. Lila, die ihren Schicksalsort nie verlassen hat, ist eine erfolgreiche Unternehmerin geworden, aber dieser Erfolg kommt sie teuer zu stehen. Denn sie gerät zusehends in die grausame, chauvinistische Welt des verbrecherischen Neapels, eine Welt, die sie Zeit ihres Lebens verabscheut und bekämpft hat.
Bei allen Verwerfungen und Rivalitäten, die ihre lange gemeinsamen Geschichte prägen – Lila und Elena halten einander die Treue, und fast scheint das Glück eine späte Möglichkeit. Aber beide haben sie übersehen, dass ihre hartnäckigsten Verehrer im Lauf der Jahre zu erbitterten Feinden geworden sind.
Von Oktober 1976 bis zu der Zeit, als ich, 1979, nach Neapel zurückzog, vermied ich es, wieder feste Beziehungen zu Lila aufzubauen. Das war nicht leicht. Sie versuchte fast sofort, erneut in mein Leben einzubrechen, und ich ignorierte sie, tolerierte sie, ertrug sie. Obwohl sie sich so verhielt, als wollte sie mir lediglich in einer schweren Zeit nahe sein, konnte ich nicht vergessen, mit welcher Geringschätzung sie mich behandelt hatte.
Heute denke ich, wenn mich nur die Beschimpfung gekränkt hätte – »du bist eine dumme Gans«, hatte sie am Telefon geschrien, als ich ihr von Nino erzählt hatte, und nie zuvor hatte sie so mit mir gesprochen –, dann hätte ich mich schnell wieder beruhigt. Doch schwerer als diese Beleidigung wog der Hinweis auf Dede und Elsa. »Denk daran, was du deinen Töchtern damit antust«, hatte sie mich zurechtgewiesen, und ich hatte das zunächst nicht weiter beachtet. Aber mit der Zeit bekamen diese Worte immer mehr Gewicht, sie fielen mir häufig ein. Lila hatte nie das geringste Interesse für Dede und Elsa gezeigt, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit erinnerte sie sich nicht einmal an ihre Namen. Wenn ich am Telefon einen klugen Spruch von ihnen wiedergegeben hatte, war sie mir stets ins Wort gefallen und hatte das Thema gewechselt. Und als sie die beiden in der Wohnung von Marcello Solara zum ersten Mal sah, hatte sie sich auf einen flüchtigen Blick und auf ein paar allgemeine Bemerkungen beschränkt, sie hatte nicht im mindesten darauf geachtet, wie hübsch angezogen und gekämmt sie waren und wie gut sie sich ausdrücken konnten, obwohl sie noch so klein waren. Dabei hatte ich sie zur Welt gebracht, ich hatte sie aufgezogen, sie waren ein Teil von mir, ihrer langjährigen Freundin. Sie hätte – wenn schon nicht aus Zuneigung, so doch zumindest aus Höflichkeit – meinem mütterlichen Stolz Raum lassen müssen. Stattdessen hatte sie nicht einmal etwas gutmütigen Spott aufgebracht, sie hatte Gleichgültigkeit gezeigt, mehr nicht. Nun erst – garantiert aus Eifersucht, weil ich mir Nino geangelt hatte – waren ihr die Mädchen wieder eingefallen, und sie hatte unterstreichen wollen, was für eine schlechte Mutter ich war, die nur für ihr eigenes Glück deren Unglück verursachte. Immer wenn ich daran dachte, wurde ich nervös. Hatte Lila sich etwa um Gennaro gekümmert, als sie Stefano verlassen hatte, als sie den Jungen wegen ihrer Arbeit in der Fabrik zur Nachbarin gebracht und als sie ihn zu mir geschickt hatte, als ob sie ihn loswerden wollte? Ja doch, ich hatte meine Fehler, aber ich war unzweifelhaft eine bessere Mutter als sie.
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Sie könnten unterschiedlicher kaum sein und sind doch unzertrennlich, Lila und Elena, schon als junge Mädchen beste Freundinnen. Und sie werden es ihr ganzes Leben lang bleiben, über sechs Jahrzehnte hinweg, bis die eine spurlos verschwindet und die andere auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das Rätsel dieses Verschwindens zu kommen.
Im Neapel der fünfziger Jahre wachsen sie auf, in einem armen, überbordenden, volkstümlichen Viertel, derbes Fluchen auf den Straßen, Familien, die sich seit Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk artet in eine Schießerei aus. Hier gehen sie in die Schule, die unangepasste, draufgängerische Schustertochter Lila und die schüchterne, beflissene Elena, Tochter eines Pförtners, beide darum wetteifernd, besser zu sein als die andere. Bis Lilas Vater seine noch junge Tochter zwingt, dauerhaft in der Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem bohrenden Verdacht zurückbleibt, eine Gelegenheit zu nutzen, die eigentlich ihrer Freundin zugestanden hätte.
Ihre Wege trennen sich, die eine geht fort und studiert und wird Schriftstellerin, die andere wird Neapel nie verlassen, und trotzdem bleiben Elena und Lila sich nahe, sie begleiten einander durch erste Liebesaffären, Ehen, die Erfahrung von Mutterschaft, durch Jahre der Arbeit und Episoden politischer Bewusstwerdung, zwei eigensinnige, unnachgiebige Frauen, die sich nicht zuletzt gegen die Zumutungen einer brutalen, von Männern beherrschten Welt behaupten müssen.
Sie bleiben einander nahe, aber es ist stets eine zwiespältige Nähe: aus Befremden und Zuneigung, aus Rivalität und Innigkeit, aus Missgunst und etwas, das größer und stiller ist als Lieben. Liegt hier das Geheimnis von Lilas Verschwinden?
Elena Ferrante hat ein literarisches Meisterwerk von unermesslicher Strahlkraft geschrieben, ein von hinreißenden Figuren bevölkertes Sittengemälde und ein zupackend aufrichtiges Epos – über die rettende und zerstörerische, die weltverändernde Kraft einer Freundschaft, die ein ganzes langes Leben währt.
Heute Morgen hat mich Rino angerufen, ich dachte, er wollte wieder einmal Geld, und wappnete mich, es ihm zu verweigern. Doch der Grund seines Anrufs war ein anderer.
Seine Mutter war unauffindbar.
»Seit wann?«
»Seit zwei Wochen.«
»Und da rufst du mich erst jetzt an?«
Mein Tonfall muss ihm feindselig vorgekommen sein, obwohl ich weder verärgert noch aufgebracht war, es lag nur eine Spur von Sarkasmus in meiner Stimme. Er, versuchte dagegenzuhalten, tat es jedoch unbeholfen, verlegen, halb im Dialekt, halb auf Italienisch. Er sagte, er sei fest davon überzeugt, dass seine Mutter irgendwo in Neapel herumstreife, wie immer.
»Auch nachts?«
»Du weißt doch, wie sie ist.«
»Ich weiß es, aber findest du zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen normal?«
»Ja. Du hast sie lange nicht gesehen, ihr Zustand hat sich verschlechtert. Sie schläft überhaupt nicht mehr, kommt, geht, macht, was sie will.«
Immerhin war er am Ende doch besorgt. Er hatte überall herumgefragt, hatte die Runde durch die Krankenhäuser gemacht und sich sogar an die Polizei gewandt. Nichts, seine Mutter war nirgends zu finden. Was für ein reizender Sohn: ein dicker Kerl um die vierzig, der noch nie in seinem Leben gearbeitet hat, immer nur krumme Geschäfte und ein Leben auf großem Fuß. Ich konnte mir denken, mit welcher Gründlichkeit er seine Nachforschungen angestellt hatte. Mit keiner. Er hatte nichts im Kopf, und am Herzen lag ihm nur er selbst.
»Sie ist nicht zufällig bei dir?«, fragte er mich unvermittelt.
Seine Mutter? Hier in Turin? Er wusste genau, wie die Dinge lagen, und redete nur, um irgendwas zu sagen. Er, ja, er war viel unterwegs, mindestens ein Dutzend Mal ist er schon uneingeladen bei mir aufgetaucht. Aber seine Mutter, die ich gern willkommen geheißen hätte, war zeit ihres Lebens nicht aus Neapel herausgekommen. Ich antwortete:
»Nein, zufällig nicht.«
»Bist du sicher?«
»Rino, also bitte: Ich habe gesagt, sie ist nicht hier.«
»Und wo ist sie dann?«
Er brach in Tränen aus, und ich ließ ihm seinen Auftritt, verzweifelte Schluchzer, die unecht begannen und echt weitergingen. Als er fertig war, sagte ich:
»Benimm dich bitte endlich mal, wie sie es gern hätte: Lass sie in Ruhe.«
»Was redest du denn da?«
»Ich meine es ernst. Es hat keinen Zweck. Lerne, auf eigenen Füßen zu stehen, und lass auch mich in Ruhe.«
Ich legte auf.
2
Rinos Mutter heißt Raffaella Cerullo, wurde aber von allen schon immer Lina gerufen. Von mir nicht, ich habe sie nie so genannt. Für mich ist sie seit mehr als sechzig Jahren Lila. Wenn ich plötzlich Lina oder Raffaella zu ihr sagte, würde sie denken, mit unserer Freundschaft wäre es vorbei.
Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte, und nur ich weiß, was sie damit meint. Sie hat nie eine Flucht im Sinn gehabt, einen Identitätswechsel, den Traum, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Sie hat auch nie an Selbstmord gedacht, ist ihr doch die Vorstellung zuwider, Rino könnte mit ihrem toten Körper zu tun haben und müsste sich um ihn kümmern. Nein, ihr schwebte etwas anderes vor: Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein. Und da ich sie gut kenne oder zumindest glaube, sie zu kennen, bin ich fest davon überzeugt, dass sie einen Weg gefunden hat, nicht einmal ein Haar auf dieser Welt zurückzulassen, nirgendwo.
3
Die Tage vergingen. Ich sah meine E-Mails durch, auch meine Papierpost, aber ohne viel Hoffnung. Ich hatte ihr oft geschrieben, sie hatte mir fast nie geantwortet. So ist es immer gewesen. Sie zog das Telefon vor oder die langen
nächtlichen Gespräche, wenn ich in Neapel war.
Ich öffnete meine Schubladen und die Blechschachteln, in denen ich alles Mögliche aufbewahre. Nur Weniges. Vieles hatte ich weggeworfen, vornehmlich Dinge, die mit ihr zu tun hatten, sie weiß das. Ich stellte fest, dass ich rein gar nichts von ihr habe, nicht ein Bild, nicht einen Zettel, nicht das kleinste Geschenk. Ich wunderte mich über mich selbst. War es möglich, dass sie mir in all den Jahren nichts von sich gegeben hatte oder, schlimmer noch, dass ich nicht das Geringste von ihr hatte aufbewahren wollen? Möglich.
Diesmal rief ich Rino an, allerdings widerstrebend. Er antwortete weder auf dem Festnetz noch auf dem Handy. Erst am Abend rief er zurück, er hatte die Ruhe weg. Er schlug den Ton an, mit dem er gern Schuldgefühle auslöst.
»Du hast angerufen, wie ich sehe. Hast du Neuigkeiten?«
»Nein. Du?«
»Nein.«
Er redete wirres Zeug. Wollte sich ans Fernsehen wenden, an eine »Bitte melde dich«-Sendung, einen Aufruf starten, seine Mutter für alles um Verzeihung bitten, sie anflehen, nach Hause zu kommen.
Ich hörte ihm geduldig zu, dann fragte ich:
»Hast du mal einen Blick in ihren Schrank geworfen?«
»Wozu denn?«
Das Naheliegendste war ihm natürlich nicht eingefallen.
»Sieh nach.«
Er ging zum Schrank und entdeckte, dass nichts darin war, kein einziges Kleid seiner Mutter, weder für den Sommer noch für den Winter, nichts als alte Kleiderbügel. Ich schickte ihn auf eine Suchaktion durch die Wohnung. Ihre Schuhe, weg. Die wenigen Bücher, weg. Sämtliche Fotos, weg. Die Filme, weg. Ihr Rechner, weg, und auch die alten Disketten, die man früher benutzte, einfach alles; alles, was mit ihrer Tüftelei eines Computerfans zu tun hatte, der schon Ende der sechziger Jahre, noch in der Lochstreifen-Ära, mit Rechenmaschinen herumexperimentiert hatte. Rino staunte. Ich sagte:
»Lass dir so viel Zeit, wie du willst, doch dann ruf mich an und sag mir, ob du auch nur eine Stecknadel gefunden hast, die ihr gehört.«
Er meldete sich am nächsten Tag, in höchster Aufregung.
»Da ist nichts!«
»Gar nichts?«
»Nein! Sie hat sich aus allen Fotos herausgeschnitten, auf denen wir gemeinsam waren, auch aus denen meiner Kindheit.«
»Hast du auch wirklich gründlich nachgesehen?«
»Überall.«
»Auch im Keller?«
»Ich sag’ doch, überall. Sogar der Karton mit den alten Papieren ist verschwunden, mit, was weiß ich,Geburtsurkunden, Telefonverträgen, Quittungen. Was hat das zu bedeuten? Waren das Einbrecher? Und was haben die gesucht? Was wollen die von mir und meiner Mutter?«
Ich beruhigte ihn, riet ihm, sich nicht aufzuregen. Es sei unwahrscheinlich, dass jemand ausgerechnet von ihm etwas wolle.
»Kann ich eine Weile bei dir wohnen?«
»Ausgeschlossen.«
»Bitte, ich kann nicht schlafen.«
»Du musst allein klarkommen, Rino, ich kann da auch
nichts machen.«
Ich legte auf, und als er wieder anrief, reagierte ich nicht. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch.
Lila will wie immer zu weit gehen, dachte ich.
Sie übertrieb die Sache mit den Spuren maßlos. Sie wollte nicht nur verschwinden, jetzt, mit sechsundsechzig Jahren, sondern auch das ganze Leben auslöschen, das hinter ihr lag.
Ich war unglaublich wütend.
Mal sehen,wer diesmal das letzte Wort behält, sagte ich mir. Ich schaltete den Computer ein und begann unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist.
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Sie könnten unterschiedlicher kaum sein und sind doch unzertrennlich, Lila und Elena, schon als junge Mädchen beste Freundinnen. Und sie werden es ihr ganzes Leben lang bleiben, über sechs Jahrzehnte hinweg, bis die eine spurlos verschwindet und die andere auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das Rätsel dieses Verschwindens zu kommen.
Im Neapel der fünfziger Jahre wachsen sie auf, in einem armen, überbordenden, volkstümlichen Viertel, derbes Fluchen auf den Straßen, Familien, die sich seit Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk artet in eine Schießerei aus. Hier gehen sie in die Schule, die unangepasste, draufgängerische Schustertochter Lila und die schüchterne, beflissene Elena, Tochter eines Pförtners, beide darum wetteifernd, besser zu sein als die andere. Bis Lilas Vater seine noch junge Tochter zwingt, dauerhaft in der Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem bohrenden Verdacht zurückbleibt, eine Gelegenheit zu nutzen, die eigentlich ihrer Freundin zugestanden hätte.
Ihre Wege trennen sich, die eine geht fort und studiert und wird Schriftstellerin, die andere wird Neapel nie verlassen, und trotzdem bleiben Elena und Lila sich nahe, sie begleiten einander durch erste Liebesaffären, Ehen, die Erfahrung von Mutterschaft, durch Jahre der Arbeit und Episoden politischer Bewusstwerdung, zwei eigensinnige, unnachgiebige Frauen, die sich nicht zuletzt gegen die Zumutungen einer brutalen, von Männern beherrschten Welt behaupten müssen.
Sie bleiben einander nahe, aber es ist stets eine zwiespältige Nähe: aus Befremden und Zuneigung, aus Rivalität und Innigkeit, aus Missgunst und etwas, das größer und stiller ist als Lieben. Liegt hier das Geheimnis von Lilas Verschwinden?
Elena Ferrante hat ein literarisches Meisterwerk von unermesslicher Strahlkraft geschrieben, ein von hinreißenden Figuren bevölkertes Sittengemälde und ein zupackend aufrichtiges Epos – über die rettende und zerstörerische, die weltverändernde Kraft einer Freundschaft, die ein ganzes langes Leben währt.
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Heute Morgen hat mich Rino angerufen, ich dachte, er wollte wieder einmal Geld, und wappnete mich, es ihm zu verweigern. Doch der Grund seines Anrufs war ein anderer.
Seine Mutter war unauffindbar.
»Seit wann?«
»Seit zwei Wochen.«
»Und da rufst du mich erst jetzt an?«
Mein Tonfall muss ihm feindselig vorgekommen sein, obwohl ich weder verärgert noch aufgebracht war, es lag nur eine Spur von Sarkasmus in meiner Stimme. Er, versuchte dagegenzuhalten, tat es jedoch unbeholfen, verlegen, halb im Dialekt, halb auf Italienisch. Er sagte, er sei fest davon überzeugt, dass seine Mutter irgendwo in Neapel herumstreife, wie immer.
»Auch nachts?«
»Du weißt doch, wie sie ist.«
»Ich weiß es, aber findest du zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen normal?«
»Ja. Du hast sie lange nicht gesehen, ihr Zustand hat sich verschlechtert. Sie schläft überhaupt nicht mehr, kommt, geht, macht, was sie will.«
Immerhin war er am Ende doch besorgt. Er hatte überall herumgefragt, hatte die Runde durch die Krankenhäuser gemacht und sich sogar an die Polizei gewandt. Nichts, seine Mutter war nirgends zu finden. Was für ein reizender Sohn: ein dicker Kerl um die vierzig, der noch nie in seinem Leben gearbeitet hat, immer nur krumme Geschäfte und ein Leben auf großem Fuß. Ich konnte mir denken, mit welcher Gründlichkeit er seine Nachforschungen angestellt hatte. Mit keiner. Er hatte nichts im Kopf, und am Herzen lag ihm nur er selbst.
»Sie ist nicht zufällig bei dir?«, fragte er mich unvermittelt.
Seine Mutter? Hier in Turin? Er wusste genau, wie die Dinge lagen, und redete nur, um irgendwas zu sagen. Er, ja, er war viel unterwegs, mindestens ein Dutzend Mal ist er schon uneingeladen bei mir aufgetaucht. Aber seine Mutter, die ich gern willkommen geheißen hätte, war zeit ihres Lebens nicht aus Neapel herausgekommen. Ich antwortete:
»Nein, zufällig nicht.«
»Bist du sicher?«
»Rino, also bitte: Ich habe gesagt, sie ist nicht hier.«
»Und wo ist sie dann?«
Er brach in Tränen aus, und ich ließ ihm seinen Auftritt, verzweifelte Schluchzer, die unecht begannen und echt weitergingen. Als er fertig war, sagte ich:
»Benimm dich bitte endlich mal, wie sie es gern hätte: Lass sie in Ruhe.«
»Was redest du denn da?«
»Ich meine es ernst. Es hat keinen Zweck. Lerne, auf eigenen Füßen zu stehen, und lass auch mich in Ruhe.«
Ich legte auf.
2
Rinos Mutter heißt Raffaella Cerullo, wurde aber von allen schon immer Lina gerufen. Von mir nicht, ich habe sie nie so genannt. Für mich ist sie seit mehr als sechzig Jahren Lila. Wenn ich plötzlich Lina oder Raffaella zu ihr sagte, würde sie denken, mit unserer Freundschaft wäre es vorbei.
Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte, und nur ich weiß, was sie damit meint. Sie hat nie eine Flucht im Sinn gehabt, einen Identitätswechsel, den Traum, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Sie hat auch nie an Selbstmord gedacht, ist ihr doch die Vorstellung zuwider, Rino könnte mit ihrem toten Körper zu tun haben und müsste sich um ihn kümmern. Nein, ihr schwebte etwas anderes vor: Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein. Und da ich sie gut kenne oder zumindest glaube, sie zu kennen, bin ich fest davon überzeugt, dass sie einen Weg gefunden hat, nicht einmal ein Haar auf dieser Welt zurückzulassen, nirgendwo.
3
Die Tage vergingen. Ich sah meine E-Mails durch, auch meine Papierpost, aber ohne viel Hoffnung. Ich hatte ihr oft geschrieben, sie hatte mir fast nie geantwortet. So ist es immer gewesen. Sie zog das Telefon vor oder die langen
nächtlichen Gespräche, wenn ich in Neapel war.
Ich öffnete meine Schubladen und die Blechschachteln, in denen ich alles Mögliche aufbewahre. Nur Weniges. Vieles hatte ich weggeworfen, vornehmlich Dinge, die mit ihr zu tun hatten, sie weiß das. Ich stellte fest, dass ich rein gar nichts von ihr habe, nicht ein Bild, nicht einen Zettel, nicht das kleinste Geschenk. Ich wunderte mich über mich selbst. War es möglich, dass sie mir in all den Jahren nichts von sich gegeben hatte oder, schlimmer noch, dass ich nicht das Geringste von ihr hatte aufbewahren wollen? Möglich.
Diesmal rief ich Rino an, allerdings widerstrebend. Er antwortete weder auf dem Festnetz noch auf dem Handy. Erst am Abend rief er zurück, er hatte die Ruhe weg. Er schlug den Ton an, mit dem er gern Schuldgefühle auslöst.
»Du hast angerufen, wie ich sehe. Hast du Neuigkeiten?«
»Nein. Du?«
»Nein.«
Er redete wirres Zeug. Wollte sich ans Fernsehen wenden, an eine »Bitte melde dich«-Sendung, einen Aufruf starten, seine Mutter für alles um Verzeihung bitten, sie anflehen, nach Hause zu kommen.
Ich hörte ihm geduldig zu, dann fragte ich:
»Hast du mal einen Blick in ihren Schrank geworfen?«
»Wozu denn?«
Das Naheliegendste war ihm natürlich nicht eingefallen.
»Sieh nach.«
Er ging zum Schrank und entdeckte, dass nichts darin war, kein einziges Kleid seiner Mutter, weder für den Sommer noch für den Winter, nichts als alte Kleiderbügel. Ich schickte ihn auf eine Suchaktion durch die Wohnung. Ihre Schuhe, weg. Die wenigen Bücher, weg. Sämtliche Fotos, weg. Die Filme, weg. Ihr Rechner, weg, und auch die alten Disketten, die man früher benutzte, einfach alles; alles, was mit ihrer Tüftelei eines Computerfans zu tun hatte, der schon Ende der sechziger Jahre, noch in der Lochstreifen-Ära, mit Rechenmaschinen herumexperimentiert hatte. Rino staunte. Ich sagte:
»Lass dir so viel Zeit, wie du willst, doch dann ruf mich an und sag mir, ob du auch nur eine Stecknadel gefunden hast, die ihr gehört.«
Er meldete sich am nächsten Tag, in höchster Aufregung.
»Da ist nichts!«
»Gar nichts?«
»Nein! Sie hat sich aus allen Fotos herausgeschnitten, auf denen wir gemeinsam waren, auch aus denen meiner Kindheit.«
»Hast du auch wirklich gründlich nachgesehen?«
»Überall.«
»Auch im Keller?«
»Ich sag’ doch, überall. Sogar der Karton mit den alten Papieren ist verschwunden, mit, was weiß ich,Geburtsurkunden, Telefonverträgen, Quittungen. Was hat das zu bedeuten? Waren das Einbrecher? Und was haben die gesucht? Was wollen die von mir und meiner Mutter?«
Ich beruhigte ihn, riet ihm, sich nicht aufzuregen. Es sei unwahrscheinlich, dass jemand ausgerechnet von ihm etwas wolle.
»Kann ich eine Weile bei dir wohnen?«
»Ausgeschlossen.«
»Bitte, ich kann nicht schlafen.«
»Du musst allein klarkommen, Rino, ich kann da auch
nichts machen.«
Ich legte auf, und als er wieder anrief, reagierte ich nicht. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch.
Lila will wie immer zu weit gehen, dachte ich.
Sie übertrieb die Sache mit den Spuren maßlos. Sie wollte nicht nur verschwinden, jetzt, mit sechsundsechzig Jahren, sondern auch das ganze Leben auslöschen, das hinter ihr lag.
Ich war unglaublich wütend.
Mal sehen,wer diesmal das letzte Wort behält, sagte ich mir. Ich schaltete den Computer ein und begann unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist.
Sie sind im #FerranteFever und wollen noch weiterlesen?
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Lila und Elena sind sechzehn Jahre alt, und sie sind verzweifelt. Lila hat noch am Tage ihrer Hochzeit erfahren, dass ihr Mann sie hintergeht – er macht Geschäfte mit den allseits verhassten Solara-Brüdern, den lokalen Camorristi. Für Lila, arm geboren und durch die Ehe schlagartig zu Geld und Ansehen gekommen, brechen leidvolle Zeiten an. Elena hingegen verliebt sich Hals über Kopf in einen jungen Studenten, doch der scheint nur mit ihren Gefühlen zu spielen. Sie ist eine regelrechte Vorzeigeschülerin geworden, muss aber feststellen, dass das, was sie sich mühsam erarbeitet hat, in ihrer neapolitanischen Welt kaum etwas gilt.
Trotz all dieser Widrigkeiten beharren Lila und Elena immer weiter darauf, ihr Leben selbst zu bestimmen, auch wenn der Preis, den sie dafür zahlen müssen, bisweilen brutal ist. Woran die beiden jungen Frauen sich festhalten, ist ihre Freundschaft. Nur: Können sie einander wirklich vertrauen?
Elena Ferrante hat einen Weltbestseller geschrieben. Ein Gipfelwerk der zeitgenössischen Literatur. Und einen Roman, den man erschüttert und begeistert liest!
Das Lesezeichen zu Band 2 finden Sie hier »
Im Frühling 1966 vertraute Lila mir in höchster Aufregung eine Blechschachtel mit acht Schreibheften an. Sie sagte, sie könne sie nicht länger zu Hause behalten, sie fürchte, ihr Mann könnte sie lesen. Ich nahm die Schachtel kommentarlos an mich, abgesehen von einer ironischen Bemerkung über die Unmengen von Schnur, mit der sie sie umwickelt hatte. Zu jener Zeit stand es denkbar schlecht um unsere Freundschaft, doch offenbar sah nur ich das so. Die seltenen Male, die wir uns trafen, zeigte sie keinerlei Verlegenheit, war herzlich zu mir und verlor nicht ein feindseliges Wort.
Als sie mich bat, zu schwören, dass ich die Schachtel unter keinen Umständen öffnen würde, schwor ich es. Aber kaum saß ich im Zug, löste ich die Schnur, nahm die Hefte heraus und begann zu lesen. Das waren keine Tagebücher, obwohl detaillierte Schilderungen von Ereignissen aus Lilas Leben seit dem Abschluss der Grundschule darin enthalten waren. Sie waren eher das Zeugnis einer hartnäckigen Selbstdisziplin im Schreiben. Es gab Beschreibungen im Überfluss: vom Ast eines Baumes, von den Teichen, von einem Stein, von einem Laubblatt mit weißer Äderung,von Kochtöpfen, von den verschiedenen Teilen eines Espressokännchens, von einem Kohlenbecken, von Kohle und Holzkohle, es gab eine punktgenaue Zeichnung unseres Hofes und die Beschreibung unserer Straße – des Stradone – sowie des rostigen Eisenskeletts hinter den Teichen, unseres kleinen Parks und der Kirche, des Abholzens der Bäume hinter der Eisenbahn, der Neubauten, der Wohnung ihrer Eltern, des Werkzeugs, mit dem ihr Vater und ihr Bruder Schuhe reparierten, ihrer Handgriffe bei der Arbeit und vor allem von Farben, der Farben sämtlicher Dinge zu verschiedenen Tageszeiten. Doch es gab nicht nur beschreibende Passagen. Auch einzelne Wörter im Dialekt und in der Hochsprache tauchten auf, manchmal eingekreist, ohne Kommentar. Und Übersetzungsübungen auf Latein und Griechisch. Und ganze Abschnitte auf Englisch über die Läden unseres Viertels – des Rione –, über die Waren, über den Karren voller Obst und Gemüse, mit dem Enzo Scanno täglich von Straße zu Straße zog, wobei er den Esel am Halfter führte. Und unzählige Gedanken zu den Büchern, die sie gelesen hatte, zu den Filmen, die sie im Gemeindekino gesehen hatte. Und viele Ansichten,die sie in den Diskussionen mit Pasquale und in den Gesprächen mit mir vertreten hatte. Zwar gab es keine kontinuierliche Abfolge, doch egal, was Lila schriftlich einfing, alles bekam Format, so dass sich selbst auf den Seiten, die sie mit elf oder zwölf Jahren geschrieben hatte, nicht eine kindisch klingende Zeile fand.
Ihre Sätze waren äußerst präzise, die Zeichensetzung akkurat und alles in der Schönschrift gehalten, die Maestra Oliviero uns gelehrt hatte. Nur manchmal schien Lila die Ordnung, die sie sich auferlegt hatte, nicht einhalten zu können, als hätte eine Droge ihre Adern überschwemmt. Dann wurde alles atemlos, ihre Sätze überschlugen sich, die Zeichensetzung verschwand. Meistens brauchte sie nicht lange, um zu einem entspannten, klaren Ton zurückzufinden. Aber manchmal brach sie jäh ab und füllte den Rest der Seite mit kleinen Zeichnungen krummer Bäume, buckliger, rauchender Berge und verzerrter Gesichter. Sowohl ihre Ordnung als auch ihre Unordnung beeindruckten mich, und je mehr ich las, umso mehr fühlte ich mich getäuscht. Wie viel Übung steckte hinter dem Brief, den sie mir Jahre zuvor nach Ischia geschickt hatte: Deshalb war er so gut geschrieben! Ich stopfte alles in die Blechschachtel zurück und nahm mir vor, nicht weiter herumzuschnüffeln.
Doch schon bald wurde ich wieder schwach ...
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Es sind die turbulenten siebziger Jahre und die beiden inzwischen erwachsene Frauen. Lila ist Mutter geworden und hat sich befreit und alles hingeworfen – den Wohlstand, ihre Ehe, ihren neuen Namen – und arbeitet unter entwürdigenden Bedingungen in einer Fabrik. Elena hat ihr altes neapolitanisches Viertel hinter sich gelassen, das Studium beendet und ihren ersten Roman veröffentlicht. Als sie in eine angesehene norditalienische Familie einheiratet und ihrerseits ein Kind bekommt, hält sie ihren gesellschaftlichen Aufstieg für vollendet. Doch schon bald muss sie feststellen, dass sie ständig an Grenzen gerät.
Ganze Welten trennen die Freundinnen, doch gerade in diesen schwierigen Jahren sind sie füreinander da, die Nähe, die sie verbindet, scheint unverbrüchlich. Würde da nur nicht die langjährige Konkurrenz um einen bestimmten Mann immer deutlicher zutage treten.
Das letzte Mal habe ich Lila vor fünf Jahren gesehen, im Winter 2005. Wir schlenderten früh am Morgen unsere Straße, den Stradone, entlang, und wie nun schon seit Jahren gelang es uns nicht, uns miteinander wohlzufühlen. Nur ich redete, das weiß ich noch. Sie sang vor sich hin, grüßte die Leute, die aber nicht zurückgrüßten, und die wenigen Male, da sie mich unterbrach, gab sie nur Ausrufe von sich, die keinen erkennbaren Zusammenhang mit dem hatten, was ich sagte. Im Laufe der Zeit war zu viel Schlimmes, teils auch Entsetzliches, geschehen, und um wieder Vertrauen fassen zu können, hätten wir uns verschwiegene Gedanken erzählen müssen, aber mir fehlte die Kraft, um sie zu formulieren, und Lila, die diese Kraft vielleicht besaß, hatte keine Lust dazu, sah keinen Sinn darin.
Ich hatte sie jedenfalls sehr gern, und immer wenn ich nach Neapel kam, wollte ich mich mit ihr treffen, auch wenn ich zugegebenermaßen etwas Angst davor hatte. Sie hatte sich sehr verändert. Das Alter hatte uns beide besiegt, aber während ich nun gegen einen Hang zum Übergewicht ankämpfte, war sie nach wie vor nur Haut und Knochen. Sie hatte kurzes Haar, das sie sich selbst schnitt, schlohweiß nicht weil sie sich bewusst dafür entschieden hätte, sondern aus Nachlässigkeit. Ihr stark gezeichnetes Gesicht erinnerte immer mehr an das ihres Vaters. Sie lachte überdreht, fast kreischend, und sprach zu laut. Sie gestikulierte in einem fort, mit einer so wilden Entschlossenheit, dass es aussah, als wollte sie die
Wohnblocks zerhacken, die Straße, die Passanten, mich.
Wir waren auf der Höhe unserer Grundschule, als uns ein junger Mann, den ich nicht kannte, atemlos überholte und Lila zurief, man habe in den Grünanlagen neben der Kirche eine Frauenleiche gefunden. Wir liefen zu dem kleinen Park, und sich grob den Weg bahnend zog Lila mich in die Ansammlung von Schaulustigen hinein. Die Frau lag auf der Seite, war außerordentlich dick und trug einen unmodernen, dunkelgrünen Regenmantel. Lila erkannte sie sofort, ich nicht. Es war unsere Freundin aus Kindertagen Gigliola Spagnuolo, Michele Solaras Exfrau.
Ich hatte sie jahrzehntelang nicht gesehen. Ihr schönes Gesicht war entstellt, ihre Fußgelenke waren stark geschwollen. Die ehemals braunen Haare waren nun feuerrot und so lang, wie sie sie als junges Mädchen getragen hatte, jedoch dünn, auf der lockeren Erde ausgebreitet. Nur an einem Fuß trug sie einen flachen, stark abgenutzten Schuh; der andere Fuß steckte in einem grauen, am großen Zeh durchlöcherten Wollstrumpf, und der Schuh lag einen Meter weiter, als hätte sie ihn verloren, als sie nach einem Schmerz oder nach einem Schrecken getreten hatte. Ich brach in Tränen aus, Lila sah mich ärgerlich an.
Auf einer Bank in der Nähe warteten wir schweigend, bis man Gigliola wegbrachte. Was ihr passiert war, wie sie gestorben war, wusste man zunächst nicht. Wir gingen zu Lila, in die alte, kleine Wohnung ihrer Eltern, in der sie nun mit ihrem Sohn Rino lebte. Wir redeten über unsere Freundin, Lila sprach schlecht über sie, über das Leben, das sie geführt hatte, über ihre Anmaßungen, über ihre Gemeinheiten. Diesmal war ich es, die nicht zuhören konnte, ich musste an dieses zur Seite gedrehte Gesichtauf der Erde denken, daran, wie schütter das lange Haar gewesen war, an die Flecken weißlicher Kopfhaut. Wie viele Frauen, damals kleine Mädchen wie wir, lebten nun nicht mehr, waren von der Erde verschwunden, weil sie krank geworden waren, weil ihre Nerven dem Schleifpapier der Qualen nicht standgehalten hatten, weil ihr Blut vergossen worden war.Wir blieben eine kurze Weile in der Küche sitzen, ohne dass sich eine von uns dazu aufraffte, das Geschirr abzuräumen, dann gingen wir erneut aus dem Haus.
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Elena ist schließlich doch nach Neapel zurückgekehrt, aus Liebe. Die beste Entscheidung ihres ganzen Lebens, glaubt sie, doch als sich ihr nach und nach die ganze Wahrheit über den geliebten Mann offenbart, fällt sie ins Bodenlose. Lila, die ihren Schicksalsort nie verlassen hat, ist eine erfolgreiche Unternehmerin geworden, aber dieser Erfolg kommt sie teuer zu stehen. Denn sie gerät zusehends in die grausame, chauvinistische Welt des verbrecherischen Neapels, eine Welt, die sie Zeit ihres Lebens verabscheut und bekämpft hat.
Bei allen Verwerfungen und Rivalitäten, die ihre lange gemeinsamen Geschichte prägen – Lila und Elena halten einander die Treue, und fast scheint das Glück eine späte Möglichkeit. Aber beide haben sie übersehen, dass ihre hartnäckigsten Verehrer im Lauf der Jahre zu erbitterten Feinden geworden sind.
Von Oktober 1976 bis zu der Zeit, als ich, 1979, nach Neapel zurückzog, vermied ich es, wieder feste Beziehungen zu Lila aufzubauen. Das war nicht leicht. Sie versuchte fast sofort, erneut in mein Leben einzubrechen, und ich ignorierte sie, tolerierte sie, ertrug sie. Obwohl sie sich so verhielt, als wollte sie mir lediglich in einer schweren Zeit nahe sein, konnte ich nicht vergessen, mit welcher Geringschätzung sie mich behandelt hatte.
Heute denke ich, wenn mich nur die Beschimpfung gekränkt hätte – »du bist eine dumme Gans«, hatte sie am Telefon geschrien, als ich ihr von Nino erzählt hatte, und nie zuvor hatte sie so mit mir gesprochen –, dann hätte ich mich schnell wieder beruhigt. Doch schwerer als diese Beleidigung wog der Hinweis auf Dede und Elsa. »Denk daran, was du deinen Töchtern damit antust«, hatte sie mich zurechtgewiesen, und ich hatte das zunächst nicht weiter beachtet. Aber mit der Zeit bekamen diese Worte immer mehr Gewicht, sie fielen mir häufig ein. Lila hatte nie das geringste Interesse für Dede und Elsa gezeigt, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit erinnerte sie sich nicht einmal an ihre Namen. Wenn ich am Telefon einen klugen Spruch von ihnen wiedergegeben hatte, war sie mir stets ins Wort gefallen und hatte das Thema gewechselt. Und als sie die beiden in der Wohnung von Marcello Solara zum ersten Mal sah, hatte sie sich auf einen flüchtigen Blick und auf ein paar allgemeine Bemerkungen beschränkt, sie hatte nicht im mindesten darauf geachtet, wie hübsch angezogen und gekämmt sie waren und wie gut sie sich ausdrücken konnten, obwohl sie noch so klein waren. Dabei hatte ich sie zur Welt gebracht, ich hatte sie aufgezogen, sie waren ein Teil von mir, ihrer langjährigen Freundin. Sie hätte – wenn schon nicht aus Zuneigung, so doch zumindest aus Höflichkeit – meinem mütterlichen Stolz Raum lassen müssen. Stattdessen hatte sie nicht einmal etwas gutmütigen Spott aufgebracht, sie hatte Gleichgültigkeit gezeigt, mehr nicht. Nun erst – garantiert aus Eifersucht, weil ich mir Nino geangelt hatte – waren ihr die Mädchen wieder eingefallen, und sie hatte unterstreichen wollen, was für eine schlechte Mutter ich war, die nur für ihr eigenes Glück deren Unglück verursachte. Immer wenn ich daran dachte, wurde ich nervös. Hatte Lila sich etwa um Gennaro gekümmert, als sie Stefano verlassen hatte, als sie den Jungen wegen ihrer Arbeit in der Fabrik zur Nachbarin gebracht und als sie ihn zu mir geschickt hatte, als ob sie ihn loswerden wollte? Ja doch, ich hatte meine Fehler, aber ich war unzweifelhaft eine bessere Mutter als sie.
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Olga ist achtunddreißig und verheiratet, sie hat zwei Kinder, eine schöne Wohnung in Turin und ein Leben, das solide auf familiären Gewissheiten und kleinen Ritualen ruht. Seit fünfzehn Jahren führt sie eine glückliche Ehe. Zumindest denkt sie das. Bis ein einziger Satz alles zerstört. Der Mann, mit dem sie alt zu werden hoffte, ihr geliebter Mario, will nichts mehr von ihr wissen, er hat eine Andere, eine zwanzig Jahre Jüngere. Alleingelassen mit den Kindern und dem Hund, fällt Olga in einen dunklen Abgrund, dessen Existenz sie vorher nicht einmal hat erahnen können.
Was geht in einer Frau vor, die plötzlich vor den Trümmern ihrer Ehe steht? Einer Frau, die sich immer für ausgeglichen, stark und selbstbewusst gehalten hat? Elena Ferrante erzählt uns eine ganz alltägliche Geschichte als wortgewaltige Tragödie – davon, wie es ist, bei glasklarem Verstand in den Wahnsinn abzurutschen.
An einem Nachmittag im April verkündete mir mein Mann kurz nach dem Mittagessen, dass er mich verlassen wolle. Wir räumten gerade den Tisch ab, die Kinder zankten wie gewohnt im Zimmer nebenan, der Hund lag vor der Heizung und knurrte im Traum. Er sagte, er sei verwirrt, er fühle sich manchmal furchtbar müde und unzufrieden, vielleicht auch gemein. Er sprach ausführlich über unsere fünfzehn Ehejahre und die Kinder und gab zu, dass er weder ihnen noch mir das Geringste vorzuwerfen hatte. Er wirkte beherrscht wie immer, abgesehen von der übertriebenen Geste seiner rechten Hand, als er mit kindischer Miene erklärte, zarte Stimmen, eine Art Flüstern trieben ihn woandershin. Dann übernahm er die volle Verantwortung für alles, zog behutsam die Wohnungstür hinter sich zu und ließ mich versteinert neben der Spüle zurück.
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Die ganze Nacht lag ich verzweifelt in dem breiten Ehebett und grübelte. Doch so gründlich ich die letzten Etappen unserer Beziehung auch überdachte, ich konnte keine richtigen Anzeichen einer Krise finden. Ich kannte ihn gut, ich wusste, dass er ein ruhiger Mensch war, der sein Zuhause und unsere Familienrituale brauchte. Wir konnten über alles reden, wir umarmten und küssten uns immer noch gern, und manchmal war er so witzig, dass ich Tränen lachte. Ich hielt es für ausgeschlossen, dass er wirklich gehen wollte. Als mir dann einfiel, dass er nicht einen der Gegenstände mitgenommen hatte, an denen er hing, und dass er sogar vergessen hatte, sich von den Kindern zu verabschieden, war ich sicher, dass es nichts Ernstes war. Er machte nur eine dieser schwierigen Phasen durch, wie im Roman, wenn eine Figur auf die ganz normale Unzufriedenheit völlig maßlos reagiert. Im Übrigen war ihm das schon einmal passiert: Die Gelegenheit und die Umstände fielen mir wieder ein, während ich mich im Bett hin und her wälzte. Viele Jahre zuvor, wir waren gerade sechs Monate zusammen, sagte er mir unmittelbar nach einem Kuss, er wolle mich nicht mehr wiedersehen. Ich war in ihn verliebt, mir gefror das Blut in den Adern, ihn so reden zu hören. Er ging fort und ich stand fröstelnd an der steinernen Brüstung unter dem Castel Sant’Elmo und betrachtete die farblose Stadt, das Meer. Fünf Tage später rief er mich verlegen an und rechtfertigte sich, er sagte, plötzlich habe ihn so ein Gefühl der Leere gepackt. DiesenAusdruck habe ich mir gemerkt, immer wieder wendete ich ihn in meinem Kopf hin und her.
Leda ist fast fünfzig, geschieden, sie unterrichtet Englisch an der Universität in Florenz. Die erwachsenen Töchter sind jetzt beim Vater in Kanada, und Leda muss sich eingestehen, dass sie statt der erwarteten Sehnsucht vor allem Erleichterung empfindet. Den heißen Sommer verbringt sie in einem süditalienischen Küstenort: Bücher, Sonne, das Meer, was könnte friedlicher sein? Am Strand macht sich neben ihr allerdings eine übermütig lärmende neapolitanische Großfamilie breit, darunter eine noch junge Mutter und deren kleine Tochter. Leda beobachtet die beiden über Tage, zunächst fasziniert, wohlwollend. Allmählich aber schlägt ihre Stimmung um, irgendwann folgt sie einem Impuls und tut dem kleinen Mädchen und der Familie etwas Unbegreifliches an. Und wird selber heimgesucht, von lange verdrängten Erinnerungen – an gravierende Entscheidungen, die sie zu treffen hatte, ganz zum Leidwesen ihrer eigenen Töchter ... Was bedeutet es, eine Frau und Mutter zu sein? Mit frappierender Ehrlichkeit ergründet Elena Ferrante die widersprüchlichen Gefühle, die uns an unsere Kinder binden.
Ich war noch keine Stunde unterwegs, als mein Zustand sich verschlechterte. Der Schmerz in der Seite meldete sich zurück, und eine Zeit lang versuchte ich, ihm keine Bedeutung beizumessen. Erst als mir klar wurde, dass ich nicht mehr genug Kraft hatte, das Lenkrad zu halten, begann ich mir ernstlich Sorgen zu machen.
Wenige Minuten später war mein Kopf bleischwer, die Scheinwerfer schienen mir immer blasser, und kurz darauf vergaß ich sogar, dass ich Auto fuhr. Stattdessen hatte ich das Gefühl, ich wäre am Meer, am helllichten Tag. Der Strand war leer, das Wasser ruhig, aber an einem Mast wenige Meter vom Ufer entfernt flatterte die rote Fahne.
Als ich klein war, bekam ich immer einen Schrecken, wenn meine Mutter mir einschärfte: Leda, du darfst niemals schwimmen gehen, wenn die rote Fahne weht. Dann ist das Meer sehr aufgebracht, und du kannst ertrinken. Diese Angst hielt sich über Jahre, und selbst jetzt, da das Wasser sich wie ein durchsichtiges Blatt Papier glatt bis zum Horizont erstreckte, war mir mulmig, und ich wagte nicht hineinzugehen. Ich sagte mir: Na los, geh schwimmen, bestimmt haben sie nur vergessen, die rote Fahne wieder herunterzuholen, blieb aber am Ufer stehen und steckte vorsichtig die Zehenspitzen ins Wasser. Von Zeit zu Zeit erschien meine Mutter oben in den Dünen und rief mir zu, als wäre ich immer noch ein kleines Mädchen: Leda, was machst du da, hast du die rote Fahne nicht gesehen?
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»Frantumaglia «. Es ist Elena Ferrantes Mutter, eine Schneiderin, die ihrer Tochter dieses Wort hinterlässt – es stammt aus dem neapolitanischen Dialekt, aus der Welt der verknoteten Fäden und der aufgetrennten Nähte, ein Sinnbild für Unaussprechliches, Verwirrendes. Und ein Sinnbild eben auch für die Empfindungen und Ideen, die Elena Ferrantes Leben prägen – und über die sie sich hier Klarheit verschafft.
Die Weltautorin erzählt von ihrer neapolitanischen Herkunft, von ihrer Kindheit als ein unerschöpfliches Archiv aus Erinnerungen, Eindrücken, Fantasien, sie erläutert ihr Verhältnis zur Psychologie und zu Frauenfragen, sie diskutiert ihre Haltung zur Öffentlichkeit und spricht über heutige Bedenken und Begeisterungen.
Briefe, Aufsätze und Interviews aus über fünfundzwanzig Jahren verflechten sich zu dem lebhaften Selbstporträt einer außergewöhnlichen Autorin. Elena Ferrante beantwortet in den Frantumaglia die wichtigsten der Fragen ihrer Leserinnen und Leser, sie zeigt sich so offen wie nie zuvor – und bleibt uns doch faszinierend fremd.
Liebe Sandra,
bei dem letzten, sehr angenehmen Treffen mit Dir und Deinem Mann hast Du ironisch nachgefragt, was ich denn nun zu tun gedenke, um den Verkauf von Lästige Liebe zu fördern (an den endgültigen Titel des Buches muss ich mich erst noch gewöhnen), und mir dabei einen Deiner lebhaften, amüsierten Blicke zugeworfen. Zu einer spontanen Antwort fehlte mir der Mut, zumal ich auch dachte, Sandro gegenüber schon recht deutlich gewesen zu sein, er schien nichts dagegen zu haben. Deshalb hatte ich eigentlich gehofft, das Thema nicht mehr ansprechen zu müssen, auch nicht im Spaß. Ich antworte Dir nun schriftlich, denn damit ersparen wir uns meine langen Pausen, meine Unsicherheit, meine Nachgiebigkeit. Ich habe die Absicht, gar nichts für Lästige Liebe zu tun, nichts, was ein öffentliches Auftreten mit sich brächte. Ich habe bereits genug für diesen Roman getan: Ich habe ihn geschrieben. Wenn das Buch etwas taugt, sollte das reichen. Ich werde keine Einladung zu Diskussionen oder Tagungen annehmen. Ich werde zu keiner Preisverleihung gehen, falls man mir denn einen Preis zuerkennen sollte. Ich werde keine Werbung für das Buch machen, vor allem nicht im Fernsehen, weder in Italien noch im Ausland. Ich werde mich nur schriftlich zu Wort melden, aber auch das möglichst auf ein Minimum beschränken. Für mich und meine Familie steht dieser Entschluss unwiderruflich fest.
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Dreimal ruft sie an, sie klingt überdreht und verstört, und eigentlich sollte sie im Zug nach Rom sitzen, unterwegs zu Delia, ihrer Tochter. Wenig später wird ihre halbnackte Leiche an Land gespült. Zur Beerdigung kehrt Delia nach Neapel zurück, in die erstickende, chaotische Heimatstadt, in ihre verhasste Vergangenheit. Und sie bleibt, denn sie muss die Wahrheit wissen: Warum starb ihre Mutter? Und welche Rolle spielt Caserta, ein ehemaliger Freund ihres gewalttätigen Vaters, der plötzlich wieder auftaucht? Er jedenfalls scheint der Letzte zu sein, der die Mutter lebend gesehen hat. Zunehmend verzweifelt läuft Delia durch die Gassen der Stadt und entwirrt Erinnerungen, die sie lange unterdrückt hatte. Noch ahnt sie nicht, wie schutzlos sie sein wird, gegen das schreckliche Geheimnis ihrer eigenen Kindheit …
Lästige Liebe ist ein psychologisches Meisterwerk von schwindelerregender Genauigkeit: eine Mutter-Tochtergeschichte über Liebe und Hass und den unlösbaren Knoten aus Lügen, Eifersucht und Gewalt, der die beiden – schicksalhaft – aneinander bindet.
Meine Mutter ertrank in der Nacht des 23. Mai, an meinem Geburtstag, im Meer vor einem Ort namens Spaccavento, wenige Kilometer von Minturno entfernt. In dieser Gegend hatten wir Ende der fünfziger Jahre, als mein Vater noch bei uns lebte, sommers ein Zimmer in einem Bauernhaus gemietet und schliefen den Juli über zu fünft auf nur wenigen, sehr heißen Quadratmetern. Jeden Morgen tranken wir Mädchen ein rohes Ei, nahmen auf sandigen Wegen eine Abkürzung durch hohes Schilf zum Meer und gingen schwimmen. In der Nacht als meine Mutter starb, klopfte es bei der Besitzerin des Hauses, die Rosa hieß und inzwischen über siebzig war, an die Tür, doch aus Angst vor Dieben und Mördern öffnete sie nicht.
Meine Mutter hatte zwei Tage zuvor, am 21. Mai, den Zug nach Rom genommen, war dort aber nicht angekommen. In letzter Zeit hatte sie mich mindestens einmal im Monat für jeweils ein paar Tage besucht. Ich hatte sie nicht gern in der Wohnung. Sie stand, wie sie es gewohnt war, im Morgengrauen auf und putzte Küche und Wohnzimmer von oben bis unten. Ich versuchte, wieder einzuschlafen, doch ohne Erfolg. Steif lag ich unter der Bettdecke und hatte das Gefühl, sie verwandelte meinen Körper mit ihrer Geschäftigkeit in den eines kleinen, runzligen Mädchens. Sobald sie mit dem Kaffee kam, rollte ich mich auf die Seite, um zu verhindern, dass sie mich berührte, wenn sie sich auf die Bettkante setzte. Ihre Geselligkeit ging mir auf die Nerven. Sie ging einkaufen und plauderte zwanglos mit den Händlern, mit denen ich in zehn Jahren höchstens ein paar Worte gewechselt hatte, schlenderte mit ihren Gelegenheitsbekanntschaften durch die Stadt, freundete sich mit meinen Freunden an und erzählte ihnen Geschichten aus ihrem Leben, immer dieselben. Ihr gegenüber konnte ich nur zurückhaltend und unsicher sein.
Beim ersten Anflug von Ungeduld meinerseits fuhr sie nach Neapel zurück. Sie packte ihre Sachen, gab der Wohnung einen letzten Schliff und versprach, bald wiederzukommen. Ich ging durch die Zimmer und ordnete alles, was sie nach ihrem Geschmack umgeräumt hatte, wieder nach meinem Geschmack. Ich stellte den Salzstreuer in das Fach, in dem ich ihn seit Jahren aufbewahrte, gab dem Waschmittel den Platz zurück, den ich seit jeher für den besten hielt, zerstörte ihre Ordnung in meinen Schubfächern, überließ mein Arbeitszimmer wieder dem Chaos. Auch der Geruch ihrer Anwesenheit – ein Duft, der Unruhe in die Wohnung gebracht hatte – verflog nach kurzer Zeit wie der Geruch eines Platzregens im Sommer.
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Dreimal ruft sie an, sie klingt überdreht und verstört, und eigentlich sollte sie im Zug nach Rom sitzen, unterwegs zu Delia, ihrer Tochter. Wenig später wird ihre halbnackte Leiche an Land gespült. Zur Beerdigung kehrt Delia nach Neapel zurück, in die erstickende, chaotische Heimatstadt, in ihre verhasste Vergangenheit. Und sie bleibt, denn sie muss die Wahrheit wissen: Warum starb ihre Mutter? Und welche Rolle spielt Caserta, ein ehemaliger Freund ihres gewalttätigen Vaters, der plötzlich wieder auftaucht? Er jedenfalls scheint der Letzte zu sein, der die Mutter lebend gesehen hat. Zunehmend verzweifelt läuft Delia durch die Gassen der Stadt und entwirrt Erinnerungen, die sie lange unterdrückt hatte. Noch ahnt sie nicht, wie schutzlos sie sein wird, gegen das schreckliche Geheimnis ihrer eigenen Kindheit …
Lästige Liebe ist ein psychologisches Meisterwerk von schwindelerregender Genauigkeit: eine Mutter-Tochtergeschichte über Liebe und Hass und den unlösbaren Knoten aus Lügen, Eifersucht und Gewalt, der die beiden – schicksalhaft – aneinander bindet.
Meine Mutter ertrank in der Nacht des 23. Mai, an meinem Geburtstag, im Meer vor einem Ort namens Spaccavento, wenige Kilometer von Minturno entfernt. In dieser Gegend hatten wir Ende der fünfziger Jahre, als mein Vater noch bei uns lebte, sommers ein Zimmer in einem Bauernhaus gemietet und schliefen den Juli über zu fünft auf nur wenigen, sehr heißen Quadratmetern. Jeden Morgen tranken wir Mädchen ein rohes Ei, nahmen auf sandigen Wegen eine Abkürzung durch hohes Schilf zum Meer und gingen schwimmen. In der Nacht als meine Mutter starb, klopfte es bei der Besitzerin des Hauses, die Rosa hieß und inzwischen über siebzig war, an die Tür, doch aus Angst vor Dieben und Mördern öffnete sie nicht.
Meine Mutter hatte zwei Tage zuvor, am 21. Mai, den Zug nach Rom genommen, war dort aber nicht angekommen. In letzter Zeit hatte sie mich mindestens einmal im Monat für jeweils ein paar Tage besucht. Ich hatte sie nicht gern in der Wohnung. Sie stand, wie sie es gewohnt war, im Morgengrauen auf und putzte Küche und Wohnzimmer von oben bis unten. Ich versuchte, wieder einzuschlafen, doch ohne Erfolg. Steif lag ich unter der Bettdecke und hatte das Gefühl, sie verwandelte meinen Körper mit ihrer Geschäftigkeit in den eines kleinen, runzligen Mädchens. Sobald sie mit dem Kaffee kam, rollte ich mich auf die Seite, um zu verhindern, dass sie mich berührte, wenn sie sich auf die Bettkante setzte. Ihre Geselligkeit ging mir auf die Nerven. Sie ging einkaufen und plauderte zwanglos mit den Händlern, mit denen ich in zehn Jahren höchstens ein paar Worte gewechselt hatte, schlenderte mit ihren Gelegenheitsbekanntschaften durch die Stadt, freundete sich mit meinen Freunden an und erzählte ihnen Geschichten aus ihrem Leben, immer dieselben. Ihr gegenüber konnte ich nur zurückhaltend und unsicher sein.
Beim ersten Anflug von Ungeduld meinerseits fuhr sie nach Neapel zurück. Sie packte ihre Sachen, gab der Wohnung einen letzten Schliff und versprach, bald wiederzukommen. Ich ging durch die Zimmer und ordnete alles, was sie nach ihrem Geschmack umgeräumt hatte, wieder nach meinem Geschmack. Ich stellte den Salzstreuer in das Fach, in dem ich ihn seit Jahren aufbewahrte, gab dem Waschmittel den Platz zurück, den ich seit jeher für den besten hielt, zerstörte ihre Ordnung in meinen Schubfächern, überließ mein Arbeitszimmer wieder dem Chaos. Auch der Geruch ihrer Anwesenheit – ein Duft, der Unruhe in die Wohnung gebracht hatte – verflog nach kurzer Zeit wie der Geruch eines Platzregens im Sommer.
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Allein am Strand zurückgelassen und ganz auf sich gestellt – die Puppe Celina durchlebt eine schreckliche Nacht. Der schäbige Strandwärter versucht, ihr die Worte zu rauben und sie mit seinem großen Rechen aufzukehren wie Müll, das Feuer will sie verbrennen, und das Meer erhört keines ihrer Gebete. Aber Schlimmste ist: Ihre Puppenmutter, das kleine Mädchen Mati, hat sie vergessen, denn Mati hat jetzt ein kleines Kätzchen zur Spielgefährtin. Ein Unglück folgt aufs Nächste, bis die Nacht sich in einen Tag verwandelt, und als die Sonne aufgeht, sieht Celina plötzlich alles ein wenig klarer.
Der Strand bei Nacht ist die rätselhafte, berührende, überraschende Geschichte einer Puppe mit zerbrechlicher Seele und allzu menschlichen Gefühlen. Elena Ferrantes unverwechselbare Verlebendigungskunst und Mara Cerris traumähnliche Bilder fügen sich zu einem eindringlichen Leseerlebnis für kleine und große Ferrante-Fans.
Mati ist ein kleines Mädchen, sie ist fünf Jahre alt und spricht sehr viel, vor allem mit mir. Ich bin ihre Puppe.
Gerade ist ihr Vater gekommen, er ist jedes Wochenende bei uns am Meer.
Er hat ihr ein Geschenk mitgebracht, ein schwarz-weißes Kätzchen. Darum spielt Mati seit fünf Minuten nicht mehr mit mir, sie spielt jetzt mit ihrem Kätzchen, sie nennt es Minù.
Ich liege im Sand, in der Sonne, und weiß nicht, was ich machen soll.
Matis Bruder gräbt ein Loch.
Er kann mich nicht leiden. Für ihn bin ich bloß ein kleiner Popel, er schippt den ganzen Sand auf mich.
Es ist sehr heiß.
Ich denke daran, wie Mati vorhin noch mit mir gespielt hat. Durch sie konnte ich hüpfen und laufen, konnte ich mich erschrecken, konnte ich sprechen und schreien, lachen und auch weinen.
Wenn wir spielen, plappere ich immer sehr viel, und alle Dinge antworten mir. Doch jetzt bin ich allein, halb eingebuddelt im Sand, und mir ist langweilig.
Ein Käfer kommt vorbei. Er ist so damit beschäftigt, sich einen Weg zu bahnen, dass er nicht mal Hallo sagt.
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Meine geniale Freundin, der erste Band der Neapolitanischen Saga wurde von HBO und RAI unter der Regie von Saverio Costanzo verfilmt. In acht Folgen widmet sich diese erste Staffel der Serie Kindheit und Jugend der beiden Freundinnen Elena und Lila. Die Serie ist auf DVD, BluRay und digital verfügbar.
Elena Ferrante hat ein literarisches Spiel gespielt. Sie hat sich ein Jahr lang, Woche für Woche, vom britischen Guardian eine Liste mit allen erdenklichen Themen schicken lassen, sie hat sich dann eines ausgesucht und spontan darüber geschrieben.
Zufällige Erfindungen versammelt die 52 erstaunlichen Kolumnen, die auf diese Weise entstanden sind: Es geht um erste Liebe, um Klimawandel, es geht darum, wie misslich es ist, fotografiert zu werden, was es bedeutet, wenn die eigenen Bücher verfilmt werden, es geht um die Frage, warum man Partys eigentlich immer als Letzte verlässt – und ob es eine Formel für Lebensglück gibt.
Elena Ferrante ist »eine der größten Romanschriftstellerinnen unserer Zeit« (New York Times), und sie beherrscht auch die kurzen Formen meisterhaft. Zufällige Erfindungen, das sind suggestive Stücke voller Witz, Hintersinn und beiläufiger Erleuchtungen – wunderbar illustriert von Andrea Ucini.
Im Herbst 2017 schlug mir der Guardian vor, eine wöchentliche Kolumne zu schreiben. Ich war geschmeichelt und ängstlich zugleich. Mit so etwas hatte ich keine Erfahrung, und ich fürchtete, es nicht zu können. Nach langem Zögern teilte ich der Redaktion mit, dass ich den Vorschlag annehmen würde, wenn man mir eine Reihe von Fragen schickte, auf die ich jeweils mit der gebotenen Kürze antworten wollte. Meiner Bitte wurde sofort entsprochen, und wir vereinbarten, dass die Kolumne nach spätestens einem Jahr beendet werden sollte.
Nach und nach verging das Jahr, und es war lehrreich für mich. Ich hatte mich noch nie in die Situation gebracht, zum Schreiben verpflichtet zu sein, auf einen unabänderlichen Umfang beschränkt und auf Themen, die auf meinen Wunschhin von den äußerst geduldigen Redakteuren ausgewählt worden waren. Ich bin es gewohnt, mir selbst eine Geschichte, Figuren, ein Thema zu suchen und dabei fast immer mühsam ein Wort ans andere zu reihen und vieles wieder zu streichen.
Und was ich am Ende finde – vorausgesetzt, ich finde überhaupt etwas –, überrascht vor allem mich selbst. Es ist, als erzeugte ein Satz den nächsten, indem er sich meine noch unsicheren Absichten zunutze macht, und ich weiß nie, ob das Ergebnis gut ist. Doch wenn es da ist, muss daran gefeilt werden, es ist der Moment, in dem der Text die von mir gewünschte Form erhält. Aber bei der Arbeit für den Guardian überwog die zufällige Kollision des redaktionell vorgegebenen Themas mit der Eile des Schreibens.
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Elena Ferrantes Neapolitanische Saga wird von HBO und RAI unter dem Titel Meine geniale Freundin verfilmt. Die zweite Staffel der Serie orientiert sich am zweiten Band der Neapel-Tetralogie und trägt deshalb den Untertitel Die Geschichte eines neuen Namens. Die Serie ist auf DVD, BluRay und digital verfügbar.
»Frantumaglia«. Es ist Elena Ferrantes Mutter, eine Schneiderin, die ihrer Tochter dieses Wort hinterlässt – es stammt aus dem neapolitanischen Dialekt, aus der Welt der verknoteten Fäden und der aufgetrennten Nähte, ein Sinnbild für Unaussprechliches, Verwirrendes. Und ein Sinnbild eben auch für die Empfindungen und Ideen, die Elena Ferrantes Leben prägen – und über die sie sich hier Klarheit verschafft.
Die Weltautorin erzählt von ihrer neapolitanischen Herkunft, von ihrer Kindheit als ein unerschöpfliches Archiv aus Erinnerungen, Eindrücken, Fantasien, sie erläutert ihr Verhältnis zur Psychologie und zu Frauenfragen, sie diskutiert ihre Haltung zur Öffentlichkeit und spricht über heutige Bedenken und Begeisterungen.
Briefe, Aufsätze und Interviews aus über fünfundzwanzig Jahren verflechten sich zu dem lebhaften Selbstporträt einer außergewöhnlichen Autorin. Elena Ferrante beantwortet in den Frantumaglia die wichtigsten der Fragen ihrer Leserinnen und Leser, sie zeigt sich so offen wie nie zuvor – und bleibt uns doch faszinierend fremd.
Liebe Sandra,
bei dem letzten, sehr angenehmen Treffen mit Dir und Deinem Mann hast Du ironisch nachgefragt, was ich denn nun zu tun gedenke, um den Verkauf von Lästige Liebe zu fördern (an den endgültigen Titel des Buches muss ich mich erst noch gewöhnen), und mir dabei einen Deiner lebhaften, amüsierten Blicke zugeworfen. Zu einer spontanen Antwort fehlte mir der Mut, zumal ich auch dachte, Sandro gegenüber schon recht deutlich gewesen zu sein, er schien nichts dagegen zu haben. Deshalb hatte ich eigentlich gehofft, das Thema nicht mehr ansprechen zu müssen, auch nicht im Spaß. Ich antworte Dir nun schriftlich, denn damit ersparen wir uns meine langen Pausen, meine Unsicherheit, meine Nachgiebigkeit. Ich habe die Absicht, gar nichts für Lästige Liebe zu tun, nichts, was ein öffentliches Auftreten mit sich brächte. Ich habe bereits genug für diesen Roman getan: Ich habe ihn geschrieben. Wenn das Buch etwas taugt, sollte das reichen. Ich werde keine Einladung zu Diskussionen oder Tagungen annehmen. Ich werde zu keiner Preisverleihung gehen, falls man mir denn einen Preis zuerkennen sollte. Ich werde keine Werbung für das Buch machen, vor allem nicht im Fernsehen, weder in Italien noch im Ausland. Ich werde mich nur schriftlich zu Wort melden, aber auch das möglichst auf ein Minimum beschränken. Für mich und meine Familie steht dieser Entschluss unwiderruflich fest.
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Neapel in den Neunzigern, Giovanna ist dreizehn Jahre alt, die Vorzeigetochter kultivierter Mittelschichtseltern, eine strebsame Schülerin. Doch plötzlich verändert sich alles, ihr Körper, ihre Stimmung, die Noten brechen ein, und immer öfter gerät sie mit ihren Eltern aneinander. Zufällig kommt Giovanna der Vorgeschichte ihres Vaters auf die Spur, der aus einem ganz anderen Neapel stammt, einem leidenschaftlichen, vulgären Neapel. Dort treibt sie sich herum, aber die Geheimnisse, auf die sie da stößt, verstören sie. Und als sie bei einem Abendessen bemerkt, wie ein Freund der Familie unterm Esstisch zärtlich die Füße ihrer Mutter streift, verliert sie vollends die Fassung. Denn wem kann sie überhaupt noch trauen? Und was soll ihr Halt geben? Oder ist sie selber bereits unrettbar verwoben in dieses lügenhafte Leben der Erwachsenen?
Elena Ferrante hat ein Bravourstück geschaffen und einen traurigen und schönen Roman geschrieben: über die Heucheleien der Eltern, die Atemlosigkeiten und Verwirrungen der Jugendzeit und über das Drama des Erwachsenwerdens. Darüber, wie es ist, ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden.
Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. Alles – Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblieben. Ich dagegen bin weggeglitten und gleite auch jetzt noch weg, in diese Zeilen hinein, die mir eine Geschichte geben wollen, während sie eigentlich nichts sind, nichts von mir, nichts, was wirklich begonnen oder wirklich einen Abschluss gefunden hätte: nichts als ein Knäuel, von dem niemand weiß, nicht einmal, wer dies hier gerade schreibt, ob es den passenden Faden einer Erzählung enthält oder nur ein verworrener Schmerz ohne Erlösung ist.
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Oder lieber ins Buch hineinhören (der Hörverlag) ?
Olga ist achtunddreißig und verheiratet, sie hat zwei Kinder, eine schöne Wohnung in Turin und ein Leben, das solide auf familiären Gewissheiten und kleinen Ritualen ruht. Seit fünfzehn Jahren führt sie eine glückliche Ehe. Zumindest denkt sie das. Bis ein einziger Satz alles zerstört. Der Mann, mit dem sie alt zu werden hoffte, ihr geliebter Mario, will nichts mehr von ihr wissen, er hat eine Andere, eine zwanzig Jahre Jüngere. Alleingelassen mit den Kindern und dem Hund, fällt Olga in einen dunklen Abgrund, dessen Existenz sie vorher nicht einmal hat erahnen können.
Was geht in einer Frau vor, die plötzlich vor den Trümmern ihrer Ehe steht? Einer Frau, die sich immer für ausgeglichen, stark und selbstbewusst gehalten hat? Elena Ferrante erzählt uns eine ganz alltägliche Geschichte als wortgewaltige Tragödie – davon, wie es ist, bei glasklarem Verstand in den Wahnsinn abzurutschen.
An einem Nachmittag im April verkündete mir mein Mann kurz nach dem Mittagessen, dass er mich verlassen wolle. Wir räumten gerade den Tisch ab, die Kinder zankten wie gewohnt im Zimmer nebenan, der Hund lag vor der Heizung und knurrte im Traum. Er sagte, er sei verwirrt, er fühle sich manchmal furchtbar müde und unzufrieden, vielleicht auch gemein. Er sprach ausführlich über unsere fünfzehn Ehejahre und die Kinder und gab zu, dass er weder ihnen noch mir das Geringste vorzuwerfen hatte. Er wirkte beherrscht wie immer, abgesehen von der übertriebenen Geste seiner rechten Hand, als er mit kindischer Miene erklärte, zarte Stimmen, eine Art Flüstern trieben ihn woandershin. Dann übernahm er die volle Verantwortung für alles, zog behutsam die Wohnungstür hinter sich zu und ließ mich versteinert neben der Spüle zurück.
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Die ganze Nacht lag ich verzweifelt in dem breiten Ehebett und grübelte. Doch so gründlich ich die letzten Etappen unserer Beziehung auch überdachte, ich konnte keine richtigen Anzeichen einer Krise finden. Ich kannte ihn gut, ich wusste, dass er ein ruhiger Mensch war, der sein Zuhause und unsere Familienrituale brauchte. Wir konnten über alles reden, wir umarmten und küssten uns immer noch gern, und manchmal war er so witzig, dass ich Tränen lachte. Ich hielt es für ausgeschlossen, dass er wirklich gehen wollte. Als mir dann einfiel, dass er nicht einen der Gegenstände mitgenommen hatte, an denen er hing, und dass er sogar vergessen hatte, sich von den Kindern zu verabschieden, war ich sicher, dass es nichts Ernstes war. Er machte nur eine dieser schwierigen Phasen durch, wie im Roman, wenn eine Figur auf die ganz normale Unzufriedenheit völlig maßlos reagiert. Im Übrigen war ihm das schon einmal passiert: Die Gelegenheit und die Umstände fielen mir wieder ein, während ich mich im Bett hin und her wälzte. Viele Jahre zuvor, wir waren gerade sechs Monate zusammen, sagte er mir unmittelbar nach einem Kuss, er wolle mich nicht mehr wiedersehen. Ich war in ihn verliebt, mir gefror das Blut in den Adern, ihn so reden zu hören. Er ging fort und ich stand fröstelnd an der steinernen Brüstung unter dem Castel Sant’Elmo und betrachtete die farblose Stadt, das Meer. Fünf Tage später rief er mich verlegen an und rechtfertigte sich, er sagte, plötzlich habe ihn so ein Gefühl der Leere gepackt. DiesenAusdruck habe ich mir gemerkt, immer wieder wendete ich ihn in meinem Kopf hin und her.
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
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Meine geniale Freundin
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Die Geschichte der getrennten Wege
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Die Geschichte des verlorenen Kindes
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